Es ist noch ein bisschen ungewohnt. Nicht nur für den neuen Premierminister, sondern auch für Beobachter. Bis vor Kurzem bestand das Parlament gefühlt quasi ausschließlich aus Oppositionsfraktionen, jetzt ist es genau umgekehrt. Die neue Mehrheit besteht aus sieben Parteien, die Oppositionsfraktionen kann man buchstäblich an einer Hand abzählen - es sind fünf.
Einige von ihnen haben dann aber auch das getan, wofür sie da sind: Der Regierung auf den Zahn gefühlt. Im Zentrum standen die neuen Maßnahmen, die am Dienstag im Rahmen eines Konzertierungsausschusses beschlossen worden waren.
Und da kamen kritische Fragen auch aus den Reihen der Mehrheit. Was natürlich grundsätzlich kein Problem ist, eher im Gegenteil. "Ich habe das Gefühl, dass die beschlossene Sperrstunde für Cafés und Kneipen bei den Menschen für Unverständnis sorgt", sagte etwa die Grünen-Abgeordnete Barbara Creemers. "Die Bürger vermissen genauere Zahlen, die exakten Gründe, warum wir das so beschlossen haben."
Die gleiche Frage auch aus dem Mund von Catherine Fonck, der Fraktionsvorsitzenden der CDH, die ihrerseits ja nach wie vor in der Opposition sitzt. "Wie begründet man die Sperrstunde in Cafés? Die Menschen brauchen da klare Antworten, weil nur überzeugte Bürger die Regeln einhalten." Etwas schärfer klang das dann doch bei Sofie Merckx von der ebenfalls oppositionellen PTB. "Wir kennen die Antwort", sagte Merckx. "Sie wissen es nicht! Sie wissen nicht, wo genau sich die Menschen anstecken. Ob nun in Cafés oder doch anderswo."
Vandenbroucke gibt Opposition Recht
Und dann schienen die Grenzen zwischen Mehrheit und Opposition für einen Moment lang ganz zu verschwimmen, denn der neue Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke gab der Opposition in der Sache Recht. De Croo hatte Vandenbroucke den Vortritt gelassen, um die Fragen zu beantworten, die dessen Bereich betreffen. "Gibt es einen Beweis dafür, dass die Menschen sich vor allem in Cafés anstecken? Die Antwort wird sie frustrieren", wandte sich Vandenbroucke an die Parlamentarier.
"Nein! Diesen Beweis gibt es nicht. Die Wissenschaft ist hier schlichtweg unsicher", sagt Vandenbroucke. "Aber das gehört zum Wesen der Wissenschaft. Es gibt in dieser Krise keine Sicherheiten. Doch ist es die Aufgabe der Politik, zu handeln, zu entscheiden."
Premier Alexander De Croo wollte dennoch den Eindruck von Willkür vermeiden. Frankreich und die Niederlande verfügten über genauere Daten über das Infektionsgeschehen, sagte De Croo. "Und was sehen wir: Frankreich schließt die Cafés, in den Niederlanden gibt es eine Sperrstunde um 22 Uhr. Dann kann die Maßnahme so falsch nun auch nicht sein."
"Der Punkt ist: Wir mussten handeln", sagt De Croo. "So wie jetzt kann es nicht weitergehen. Die Situation ist einfach zu ernst. Anderenfalls hätten wir die Kontrolle verloren."
Cowboy aus Aalst
Für eine kleine Debatte sorgte dann aber noch die Aussage des Aalster Bürgermeisters Christoph D'Haese. Der hatte Anfang der Woche die Frage aufgeworfen, ob die Krankenhäuser seiner Stadt noch lange Patienten aus Brüssel aufnehmen sollten. Dazu gab es gleich eine Reihe von beißenden bis empörten Kommentaren, vor allem von den Sozialisten, Christdemokraten und Grünen. Die CD&V-Abgeordnete Nawal Farih sprach von "Cowboy-Allüren".
"In Aalst sollte man nicht vergessen, dass man vielleicht auch mal Hilfe brauchen könnte", sagte Gesundheitsminister Vandenbroucke. "Und nur zur Info: Auf dem Höhepunkt der ersten Welle sind 500 Patienten aus Aalst in Brüssel behandelt worden." Vandenbroucke brach daraufhin eindrucksvoll eine Lanze für Solidarität. "Wir können nur alle gemeinsam diese Krise meistern", sagte Vandenbroucke.
De Croo schlug in dieselbe Kerbe: "Solidarität, das ist der Schlüssel in dieser ganzen Krise. Wir müssen immer an die Schwächsten denken. Unser Verhalten entscheidet über deren Überlebenschancen. Lasst uns das bitte nie vergessen."
Roger Pint