Die Situation ist besorgniserregend. Darin sind sich Gesundheitsexperten und Politik einig. Auch wenn man deutlich betonen muss, dass die Lage keinesfalls vergleichbar ist mit der Hochphase der Epidemie im Frühjahr. Waren zum Beispiel im April rund 6.000 Menschen wegen einer Coronavirus-Infektion im Krankenhaus, von denen 1.300 auf der Intensivstation lagen, sind es zurzeit noch etwas unter 1.000 in den Hospitälern mit etwa 200 in den Intensivstationen.
Und noch etwas ist anders als bei der ersten Welle: Damals wurden alle Patienten mit Covid-19 aufgenommen, wie Elizabeth De Waele, Chefin der Abteilung Intensivmedizin des Universitätskrankenhauses Brüssel, in "De Afspraak" erklärte. Der Grund: Man wusste einfach zu wenig über die Krankheit, um gezielter vorgehen zu können.
Das ist dank mehr Daten und Forschungsergebnissen mittlerweile anders. Und bei aller sonst vielleicht berechtigten Kritik am belgischen Krisenmanagement: Die Behörden haben dazugelernt. Es gibt mittlerweile Drehbücher, um die Lage besser unter Kontrolle zu halten und eine bessere Versorgung zu gewährleisten.
Eines der Ziele ist dabei, zu vermeiden, dass Krankenhäuser dermaßen mit Corona-Patienten überlastet werden, dass sie aus Sicherheits-, Platz- und Personalgründen ihre anderen Stationen zumachen und Nicht-Corona-Patienten abweisen müssen.
Das betonte auch Steven Van Gucht vom Institut für Volksgesundheit (Sciensano) in Radio 1. Damit sollen eben alle Patienten die für sie notwendige Versorgung bekommen - ob sie jetzt an Corona oder etwas anderem leiden.
Die Krankenhäuser sollen ihren Normalbetrieb soweit wie möglich aufrechterhalten können. Der Schlüssel dafür liegt eben in einer Verteilung der Patienten, und zwar nach Kapazitäten und jeweiliger Corona-Situation. Dafür sei die frühe Aufteilung eben entscheidend, so Van Gucht.
Das System, nach dem diese Verteilung stattfindet, untersteht dem FÖD Volksgesundheit und dem Verteidigungsministerium. Sie verfolgen täglich die Lage in den Krankenhäusern. Wenn ein gewisser Schwellenwert an mit Corona-Patienten belegten Intensivbetten überschritten wird, dann findet eine Umverteilung statt.
Die Krankenhäuser selbst können dabei nicht entscheiden, welche Patienten wohin verlegt werden. Das übernimmt das System, das den Gesamtüberblick hat und dementsprechend entscheiden kann.
Die Krankenhäuser im ostflämischen Aalst haben so in den vergangenen Tagen eine größere Anzahl von Patienten aus anderen Regionen bekommen, besonders von den überlasteten Brüsseler Einrichtungen. Der Aalster Bürgermeister und Chef der lokalen Krisenzelle Christoph D'Haese fordert deswegen ein Ende der Transfers.
Die medizinische Solidarität habe Grenzen und die seien für ihn jetzt allmählich erreicht, sagte D'Haese auf Radio 2. Ja, man müsse Menschen helfen. Aber das Grundprinzip müsse doch sein, dass Aalster Patienten in Aalster Krankenhäusern Priorität genießen müssten, damit auch andere Eingriffe und Behandlungen weiter stattfinden könnten.
Damit hat er zum Teil Unverständnis, zum Teil aber auch regelrecht wütende Reaktionen und Empörung ausgelöst. So wird ihm unter anderem vorgeworfen, ohne Rücksicht auf Verluste das Solidaritätsprinzip zu untergraben. Auch gemeinschaftspolitische Motive werden ihm von manchen unterstellt.
Es sei schade, so etwas hören zu müssen, zeigte sich Steven Van Gucht noch eher diplomatisch. Abgesehen davon, dass er glaube, dass solche Entscheidungen ohnehin eine föderale Befugnis seien. Das Prinzip der Solidarität sei aber doch wesentlich und man dürfe auch nie vergessen, dass es hier um Menschen gehe.
Ob jetzt Brüsseler, Aalster, Belgier oder sonst wer – alle hätten ein Recht auf eine geeignete Gesundheitsversorgung, stellte Van Gucht klar. Da müsse man auch untereinander solidarisch sein. Und man müsse doch auch begreifen, dass nur, weil die Situation in Aalst vielleicht im Moment noch besser sei, das in ein oder zwei Monaten ganz anders aussehen könne.
Durch sogenannte Superverbreitungs- oder andere Ereignisse könnte es auch dort plötzlich zu vielen Corona-Fällen kommen. Und dann würden die Aalster doch sicher auch wollen, dass andere mit ihnen solidarisch seien, gab Van Gucht zu bedenken.
Boris Schmidt