Alexander De Croo von den flämischen Liberalen und Paul Magnette von den frankophonen Sozialisten: Einer von beiden wird höchstwahrscheinlich der nächste Premierminister. 'Höchstwahrscheinlich' wohlgemerkt, aber nicht mit absoluter Sicherheit.
Die beiden vom König bezeichneten Co-Regierungsbildner haben Ambitionen auf das Amt. Es gab aber auch Vorbehalte aus den Reihen der zukünftigen Vivaldi-Koalitionspartner gegen die beiden Politiker. Es ist nicht nur schwer eine Regierung zu bilden, sondern dazu noch schwer einen Premierminister zu finden.
Lange galt in Belgien das ungeschriebene Gesetz, dass die ideologisch-politische Familie mit den meisten Sitzen in der Kammer den Premierminister stellt. Und der kommt aus der größeren der beiden Parteien.
Wenn die Vivaldi-Koalition tatsächlich zu Stande kommt, dann wäre das eigentlich Paul Magnette. Denn die Sozialisten haben zusammen 29 Sitze. 20 die PS und 9 die SP.A. Die Liberalen haben zusammen 26 Sitze. 14 MR- und 12 Open-VLD-Sitze. Die Grünen zusammen 21. Die christdemokratische CD&V kommt alleine nur auf 12 Sitze.
Damit sind die Sozialisten nicht nur die größte Familie in dieser Vivaldi-Koalition. Die PS ist auch die größte Fraktion innerhalb dieser Mehrheit.
Aber schon 2007 galt das Prinzip nicht mehr. Damals war die liberale Familie die Größte. Der damalige Parteichef der frankophonen Liberalen, Didier Reynders, konnte trotzdem nicht Premierminister werden. Es gab zu viel Widerstand bei den Koalitionspartnern im Norden wie im Süden. In der damaligen Legislaturperiode wurden die Regierungen Verhofstadt, Leterme, Van Rompuy und nochmal Leterme gebildet. Aber keine mit einem Premier Reynders.
Und jetzt gibt es wieder Vorbehalte, die gegen das Prinzip sprechen. Diesmal ist es die MR, die gegen einen Premier Magnette ist.
Zuletzt waren vier mögliche Premierminister im Gespräch. Keiner davon hat den vollen Rückhalt. MR-Präsident Georges-Louis Bouchez kämpft absolut gegen Paul Magnette. Das hat wohl fern aller ideologischer Meinungsverschiedenheiten auch damit zu tun, dass beide im gleichen Wahlkreis antreten. Und zwar im Hennegau. Und Bouchez graut es vor der Aussicht, dass er bei den nächsten Föderalwahlen gegen einen Kandidaten mit Premierminister-Amtsbonus antreten muss.
Magnette wiederum hat sich von Anfang an gegen eine neue Amtszeit von Sophie Wilmès ausgesprochen. Da schenkt man sich also schon mal nichts.
Die flämischen Parteien sind ohnehin der Meinung, dass nach Elio Di Rupo, Charles Michel und Sophie Wilmès endlich wieder ein Flame Premierminister werden sollte. Schon alleine, weil die Vivaldi-Parteien auf flämischer Seite keine Mehrheit im Parlament repräsentieren. Die beiden größten flämischen Parteien N-VA und Vlaams Belang werden ja voraussichtlich in der Opposition sein. Und noch ein wallonischer Premier wäre dann Öl aufs Feuer gießen.
Aber da gibt es das gleiche Problem wie im Süden des Landes. Die CD&V hat sich kategorisch gegen Alexander De Croo von der Open VLD ausgesprochen. Und die flämischen Liberalen sehen ihrerseits nicht ein, dass ein Christ-Demokrat Premier werden soll. Beide Parteien haben übrigens gleich viele Sitze: 12.
Es ist alles möglich. Vielleicht scheitert die Vivaldi-Koalition noch auf der Zielgeraden. Aber wenn nicht, ist davon auszugehen, dass es Magnette oder De Croo wird. Und dann werden die beiden - egal in welcher Konstellation - eng zusammen arbeiten. Da wird der Vize-Premier auch eine Art heimlicher Premierminister.
In einem präsidialen System - wie zum Beispiel in Frankreich - nimmt man den mit den meisten persönlichen Stimmen. In Belgien kann das nicht der Maßstab sein, weil Spitzenpolitiker für die Kammer in ihrem Wahlkreis antreten. Und da macht es einen gewaltigen Unterschied, ob man in der Provinz Luxemburg oder Namur mit weniger als 500.000 Einwohnern, oder in der Provinz Antwerpen oder Ostflandern antritt, wo über anderthalb Millionen Menschen leben.
Ein Beispiel: Bart De Wever erzielte 2014 rund 300.000 Vorzugsstimmen. Der spätere Premier Charles Michel nur 34.000. Jean-Luc Dehane wurde 1992 Premier, obwohl er im Wahlkreis Brüssel-Halle-Vilvoorde nur rund 15.000 Stimmen erhielt.
Oder man muss nur nach Großbritannien schauen. Auch eine Person wie Premierminister Boris Johnson erhielt in seinem 'kleinen' Wahlkreis nur 25.000 Stimmen.
Früher gab es lange gar keinen Premierminister. Seit der Unabhängigkeit Belgiens im Jahre 1830 wurden die Regierungen mit dem Namen des Ministers benannt, der die Regierung als Formator gebildet hatte. Aber diese Position hatte keinen spezifischen Status. Warum: Ursprünglich hatte der König den Vorsitz im Ministerrat inne, aber in seiner Abwesenheit wurde der Vorsitz vom 'chef de cabinet' wahrgenommen, in der Regel vom ältesten oder einflussreichsten Minister. Diese Position gewann nach und nach an Bedeutung, und der Minister mit diesem Titel erlangte rasch die Macht, dem König Vorentscheidungen vorzuschlagen.
Das ging nur so lange gut, solange es absolute Mehrheiten gab. Nach dem ersten Weltkrieg gab es mehr politische Parteien im Parlament. Seitdem wurden Koalitionsregierungen benötigt, was die Aufgabe der Regierungsbildung durch den Formator erschwert hat.
Aber dadurch hat der Formator immer mehr Respekt und Ansehen gewonnen und sich als Führungspersönlichkeit einen Namen gemacht. Und mit Ministern aus mehreren Parteien, war es wichtig, dass jemand die Arbeit der verschiedenen Minister koordinierte. Dieser Minister wurde nun als der eigentliche Regierungschef angesehen, und so entstand die Funktion des Premierministers.
Der Titel Premierminister wurde erstmals 1918 in offiziellen Dokumenten verwendet. Erst seit 1970 wurde das Amt mit der ersten Staatsreform in die belgische Verfassung aufgenommen. Somit gibt es das Amt offiziell erst seit 1970 in unserem Land.
Egal wie schnell oder wie langsam es bei der Regierungsbildung geht. Belgien ist ohnehin länger ohne Premierminister regiert worden als mit.
Der letzte König, der den Vorsitz im Ministerrat eingenommen hatte, war König Baudouin. Er soll aber nur einige wenige Male daran teilgenommen haben.
Manuel Zimmermann