Wenn der BRF über belgische Politik berichtet, ist vor allem das Studio in Brüssel am Zug. Als kleiner Partner der beiden großen nationalen Rundfunkanstalten kann der BRF auch auf Bild- und Tonmaterial der RTBF- und VRT-Redaktionen zugreifen. Und da kommt man nicht an Ivan De Vadder vorbei.
De Vadder ist einer der bekanntesten und profiliertesten Politikjournalisten und Fernsehmoderatoren des Landes. Zusammen mit dem Kommunikationsberater und Marktforscher Jan Callebaut hat De Vadder das Buch "Het DNA van Vlaanderen" - Die DNA von Flandern geschrieben.
Sie gehen der Frage nach, was die Flamen wirklich wollen. Dabei nutzen sie Marktforschungsmethoden wie in der Privatwirtschaft. Und da geht es vor allem darum, was der Kunde in Zukunft möchte.
Dazu bündelt das Buch die Erkenntnisse aus drei Untersuchungen, die 2009, 2014 und 2019 kurz vor den Wahlen gemacht worden sind. "Dabei wurden jedesmal die gleichen Fragen gestellt," erläutert Ivan De Vadder. "Nicht nur, was die Wähler von den Parteien halten, sondern auch Fragen wie: Was wollen Sie eigentlich? Wie sieht Ihre ideale Gesellschaft aus?"
"Und dabei ist heraus gekommen, dass es in Flandern sechs verschiedene Wählergruppen gibt. Aber vor allem, dass die Parteien den Wählergruppen nicht gut zuhören und sie nicht mehr erreichen. Das gilt vor allem für die traditionellen Parteien."
Neuere Parteien, neue Themen
Die neueren Parteien, wie die Grünen, der Vlaams Belang und die N-VA, haben es einfacher, Anknüpfungspunkte bei den Wählern zu finden. Vielleicht auch, weil sie besonders auf neue Themen setzen wie Klima, Migration oder Globalisierung.
Aber es sind vor allem die traditionellen Parteien, die es nicht geschafft haben, ihren Kunden zuzuhören. Und die Botschaft lautet für diese Partien: Vielleicht müsst ihr besser zuhören, welche Träume die Flamen haben.
Das Buch beginnt mit der Feststellung, dass die traditionellen Parteien Flanderns innerhalb der letzten 20 Jahre nachhaltig an Zustimmung verloren haben. Bei den Wahlen des flämischen Parlaments 1999 konnten die christdemokratische CD&V, die liberale OpenVLD und die sozialistische SP.A zusammen 59 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen. 2019 waren es nur noch rund 38 Prozent.
Ähnlich verhält es sich übrigens in der Deutschsprachigen Gemeinschaft: 1999 konnten CSP, PFF und SP bei den Gemeinschaftswahlen noch 71 Prozent der Wähler überzeugen. 2019 nur noch 49 Prozent. Wie in Flandern also ein Rückgang von mehr als 20 Prozent.
Laut Ivan De Vadder spielen da mehrere Faktoren eine Rolle. Ein wichtiger davon ist die Ideologie. "Da gibt es drei Arten von Parteien. Da sind zuerst die traditionellen Parteien, deren Ideologien im 19. Jahrhundert entstanden sind und perfekt auf die gesellschaftlichen Themen abgestimmt waren. Liberale und Sozialisten haben sich über wirtschaftliche Themen gestritten, Katholiken und Freidenker über ethische Themen. Das ist ihr Universum."
"Die neuen Parteien befinden sich in einer anderen Welt. Sie haben neue Themen wie Klima, Umweltschutz, Migration und Globalisierung." Gemeint sind die flämischen Grünen Groen, der rechtsextreme Vlaams Belang und auch die kommunistische PVDA, die laut De Vadder ihrer eigenen Utopie nachstreben und den Flamen ein neues Gesellschaftsmodell anbieten.
Und dann gibt es laut De Vadder noch einen dritten Typus Partei, der sich von den anderen Parteien wie Groen, Vlaams Belang und die PVDA abhebt: Die zur Zeit in Flandern und Belgien stärkste Partei - die N-VA. Der Unterschied ist, so De Vadder, dass die N-VA auch als verantwortungsbewusste Partei wahrgenommen werde. Eine Partei, die auch charismatisch und inspirierend sei.
"Wir haben bei unserer Untersuchung auch gefragt, welche typischen Charaktereigenschaften zu den Parteien passen. Und dann erhält man neue Elemente, die den Parteien zugeschrieben werden. Hier einige Beispiele: Die flämischen Liberalen werden nicht mehr als glaubwürdig wahrgenommen, obwohl sich noch immer viele Wähler mit ihrer Ideologie identifizieren können."
"Die Grünen gelten als interessant. Auch ihre Ideologie spricht den Wähler an. Aber von den Grünen sagen viele Menschen, dass sie ihren eigenen Traum selber nie umsetzen können. Dafür bräuchte es einen anderen Typ Partei."
"Was die N-VA von den anderen Parteien unterscheidet, ist, dass sie von den Flamen mit der ehemaligen CVP verglichen wird. Die Partei, die noch in den 80er und 90er Jahren sozusagen den CVP-Staat eingerichtet hat. Eine in Flandern dominante Partei."
Ideal für Flandern: Kombination aus N-VA und Grünen
Co-Autor Jan Callebaut schreibt in "Het DNA van Vlaanderen", dass die ideale Partei in Flandern eine Kombination aus Grünen und N-VA wäre. Wie das gemeint ist, erklärt De Vadder: "Wenn man die ideale Partei finden möchte, dann sollte man das Verantwortungsbewusstsein der N-VA mit einem Traum verbinden, zum Beispiel dem Traum der Grünen."
"Sollte es der N-VA gelingen, den 'Grünen Traum' zu realisieren, dann wäre das die ideale Partei. Natürlich sieht die Realität anders aus: Groen und N-VA liegen inhaltlich weit auseinander. Aber der Flame sieht verschiedene Dinge, die er interessant findet. Auf der einen Seite Verantwortungsbewusstsein - und auf der anderen Seite eine Utopie, die er auch interessant findet."
Und was bedeutet das für die traditionellen Parteien? Laufen sie Gefahr, vielleicht ganz zu verschwinden? Das sei eine sehr schwierige Frage, so De Vadder. "Ich bin fast geneigt mit 'irgendwann ja' zu antworten. Aber es wird immer ein Überbleibsel dieser Parteien geben. Es wird immer Menschen geben, die sich für Chancengleichheit einsetzen - was ja das Hauptverkaufsargument der Sozialisten ist. Solidarität wird immer ein Wert bleiben. Aber man sieht diesen Wert auch bei der PVDA oder den Grünen auftauchen. Die Sozialisten haben kein Patent auf solche Werte."
Das gelte auch für die anderen traditionellen Parteien, wie zum Beispiel die christdemokratische CD&V. "Was ist noch ihr Alleinstellungsmerkmal, wenn sie nicht mehr als 'die' Regierungspartei wahrgenommen wird? Bei den Liberalen gibt es wie gesagt ein Glaubwürdigkeitsproblem. Man kann sich also vorstellen, dass sie irgendwann überflüssig werden."
Charismatische Persönlichkeiten in der Politik
Ivan De Vadder räumt aber ein, dass es ein Element gibt, das nicht untersucht wurde. Und das betrifft einzelne Politiker und ihre Strahlkraft. "Man kann sich natürlich denken, warum die Open VLD Anfang des Jahrhunderts so stark gewesen ist. Es gab Politiker wie Guy Verhofstadt, Karel De Gucht und Patrick Dewael. Und das sorgt natürlich dafür, dass eine Parteiideologie mehr Bedeutung bekommt."
Bei der N-NA nimmt Parteichef Bart De Wever diese Rolle ein. "Und warum wird die N-VA mit Verantwortungsbewusstsein assoziiert? Das liegt vor allem an der Person Bart De Wever, egal ob man mit seiner Ideologie einverstanden ist oder nicht."
Also: Ob die traditionellen Parteien verschwinden, das wird nicht nur von der Ideologie abhängen, sondern auch von anderen Faktoren. Im Umkehrschluss heißt das aber nicht, dass die Zukunft der N-VA auf Rosen gebettet ist, solange Bart De Wever das Ruder in der Hand hält.
Flamen erwarten "Willen zu regieren"
Denn der flämische Wähler habe ganz konkrete Erwartungen: Die politischen Parteien sollen regieren und verwalten. Und da machten die Wähler keinen Unterschied, auf welcher Ebene das geschehe. "Die N-VA sagt zum Beispiel: Wir regieren gut in Flandern und finden das sehr wichtig. Aber auf belgischer Ebene ist das nicht so einfach. Da müssen wir vielleicht mit der Parti Socialiste regieren."
"Der flämische Wähler sagt da aber: Nein, beste N-VA, wir erwarten von euch, dass ihr Verantwortung übernehmt, dass ihr regiert, dass ihr uns inspiriert. Und unabhängig von allen ideologischen Gegensätzen, wollen die Flamen vor allem, dass gut und verantwortlich verwaltet wird."
Laut Untersuchung ist die Mehrheit der Flamen stolz auf Flandern und etwa jeder zweite Flame ist auch stolz auf Belgien. Ein Wert, der sich seit 2014 sogar noch leicht verbessert hat. Für Ivan De Vadder ist es also klar, welcher Herausforderung sich die N-VA zu stellen hat.
"Wenn es der N-VA nicht gelingt, den Auftrag ihrer Wähler zu erfüllen – also Verantwortung zu übernehmen - dann hat die Partei ein Problem, weil sie die Erwartungen nicht erfüllt." Das habe man auch beim Marrakesch-Pakt gesehen, als die N-VA die Regierung Michel wegen des Marrakesch-Themas verlassen habe. "Das nennen wir einen großen Irrtum, weil der Flame von der N-VA erwartet, dass sie regiert. Dann darf man also nicht die Regierung verlassen. Man sieht ja auch, dass die N-VA bei den letzten Wahlen starke Verluste hinnehmen musste. Und wir glauben: vor allem deswegen."
Der Auftrag zu regieren sei klar und unabhängig davon, mit wem. Das sei natürlich keine leichte Aufgabe. "Aber wenn ihr das nicht gelingt, dann haben wir in Zukunft ein institutionelles Problem. Dann weiß ich nicht, was auf uns zukommt."
Erstaunlich sei, dass der Durchschnittswähler in Flandern gemäßigter ist als die Parteiprogramme. Er mag einzelne Elemente verschiedener Parteien interessant finden. Letztendlich befinde er sich aber vor allem im Zentrum zwischen den Rechts-Links-Positionen. Und die Parteien versuchen, ihn mit immer extremeren Äußerungen ihrer Wahlpropaganda zu locken. Was die Zusammenarbeit in einer Koalition nicht einfach macht. Denn die Parteien wollen sich nicht vorwerfen lassen, inkonsequent zu sein, sagt De Vadder.
Aber unter dem Strich gebe es für alle Parteien einen roten Faden, an dem man sich orientieren könne, das belegten die Untersuchungen seit 2009: 2009 war - nach der Gesundheit - die Rente die zweitgrößte Sorge der Flamen, auf Platz drei "die Zukunft der eigenen Kinder". 2014 eroberte dann ein neues Thema Platz zwei: "die unkontrollierte Einwanderung". Das hat sich auch 2019 nicht verändert. Die Angst vor dem Klimawandel steht seit 2019 auf Platz vier der größten Sorgen.
"Man kann sehen, dass plötzlich ein Thema wie Migration auftaucht - also sehr schnell sehr wichtig wird", sagt De Vadder. "Und auch ein Thema wie Haushaltspolitik ist wichtig. Nämlich dann, wenn ich Angst haben muss, meinen Wohlstand zu verlieren, wenn ich in Rente gehe. Und schon hat man die Top drei der Sorgen der Flamen. Er hat Angst um seine Gesundheit, er hat Angst vor unkontrollierter Einwanderung und sorgt sich um seine Rente." Allein diese drei Punkte könnten einer Partei doch als Orientierungshilfe dienen, um an die Arbeit zu gehen.
Fazit: 'Het DNA van Vlaanderen' ist ein hochinteressantes und aufschlussreiches Buch über die Stimmungslage in Flandern. Für jeden Politiker – auch aus Ostbelgien – empfiehlt es sich als absolute Pflichtlektüre, und sei es nur aus eigenem Interesse.
Manuel Zimmermann
Dazu gleich eine Frage, die Ihnen wahrscheinlich schon tausend Mal gestellt worden ist: Gibt es das Buch auch auf deutsch oder französisch, oder muss man (für mich persönlich) rund 10 Prozent Informationsverlust durch das Niederländische in Kauf nehmen?
Hallo Herr Karger, das Buch gibt es nur auf Niederländisch.
Ich kann nur zustimmen, dass aber wird in meiner Partei (SP.a) ganz sicher kontovers diskutiert werden und ich wage die Prognose, es wird sich nicht viel aendern in den tradi.-Parteien, mit Ausnahme ob die eine oder andere Partei ueberfluessigerweise einen neuen Namen bekommt oder nicht !
Erneuerung und Vision beduerfen aber auch, dass ein paar alte Betonkoepfen das Feld raeumen muessen, somit ihre selbstherrliche Wichtigkeit verlieren. Das bedeutet aber auch, dass massiv der Kampf gegen Vlaams Belang und seiner
neuen Version der alten NS.-Ideologie aufgenommen wird. Wunder sollen im Himmel geschehen, sagt die Kirche, aber bei diesen heutigen globalen auf Neo-Nationalismus beruhenden Tendenzen, geschehen keine Wunder !
Es bleibt die Hoffnung , auch fuer die Einheit und Zusammenhalt des Belgischen Staates , was aber nicht mit NVA & V.B. erreicht werden kann. Die Traeumen von der Republik Vlaanderen !
Aus dem Bericht kann man schlussfolgern, dass in Flandern vernünftige Menschen leben und dass der Graben gross ist zwischen ihnen und den politischen Parteien mit ihren Programmen. Nur wurde anscheinend nicht die Frage nach einem unabhängigen flämischen Staat gestellt, Wäre bestimmt interessant gewesen, dazu die Meinung der Befragten in Erfahrung zu bringen, denn nationalistische Parteien wählen bedeutet noch lange nicht, auch eine flämische Unabhängigkeit befürworten.