Auch wenn klar scheint, dass das Virus nicht erst mit den Rückkehrern aus den Karnevalsferien ins Land kam - dass Skitouristen wohl eine entscheidende Rolle spielten, ist schon länger deutlich. Das scheint auch eine Reportage zu bestätigen, die am Mittwochabend im VRT-Fernsehmagazin Pano zu sehen sein wird. Die Macher hatten sich zum Ziel gesetzt, den Beginn der Corona-Krise in Belgien zu rekonstruieren.
Und dabei sind die Reporter auf etwas gestoßen, was man wohl mit Recht als eine "Superverbreitung" bezeichnen kann. Also ein Ansteckungs-Ereignis ungewöhnlichen großen Ausmaßes - und zwar während der Karnevalsferien in einem Familienhotel in Obereggen in Südtirol, in den auch bei flämischen Wintersportlern besonders beliebten Skigebieten Norditaliens also.
Zu diesem Zeitpunkt gegen Ende Februar konnte von einer Corona-Pandemie, zumindest in Europa, noch keine Rede sein. Lediglich in elf Dörfern in der Hunderte Kilometer entfernten Lombardei begann sich abzuzeichnen, was sich im Laufe des Folgemonats zu einer der schlimmsten Gesundheitskrisen seit Jahrzehnten entwickeln sollte. In den Skigebieten machte man sich wenige Sorgen um das Virus, von einem Risikogebiet in Südtirol war da noch keine Rede. Und es gab auch keine Anweisung der Behörden, dass sich die Urlauber nach ihrer Rückkehr vorsichtshalber selbst isolieren sollten.
Bloß nicht übertreiben, war das Gebot der Stunde. Wie im Übrigen auch in anderen europäischen Ländern, allerorten wurde vor unverhältnismäßigen Maßnahmen gewarnt, wie Hanne Decoutere, die die Pano-Reportage mitproduzierte, in der VRT betonte. Es sei wohl ein nachvollziehbarer Einschätzungsfehler gewesen, allerdings ein folgenreicher.
Fallbeispiele
Einer, der mit seiner Familie aus diesem Ski-Urlaub zurückkam, war Dennis. Und schon bald begann er, sich krank zu fühlen, hatte Hals- und Muskelschmerzen. Dann erfuhr er, dass er von 23 bestätigten Corona-Fällen in Belgien 13 kannte, sie waren alle im gleichen Hotel abgestiegen. Unwirklich sei das gewesen, so Dennis.
Die Familie wollte sich so schnell wie möglich testen lassen. Aber weil Dennis zu diesem Zeitpunkt weder Fieber noch Husten hatte und auch nicht aus einem Risikogebiet kam, also nicht den von den Behörden festgelegten Kriterien entsprach, wurde kein Test durchgeführt. In der Woche nach den Karnevalsferien mangelte es in Belgien insgesamt an Testkapazitäten, deswegen konnten nur relativ wenige Menschen getestet werden. Am Ende musste der Hausarzt lügen und bei der Beantragung des Tests angeben, dass Dennis auch Fieber habe. Für Dennis eine gerechtfertigte Notlüge.
Viele andere Infizierte blieben durch die möglicherweise zu strengen Testkriterien dagegen lange unentdeckt und konnten das Virus verbreiten.
Aber selbst bei den Skiurlaubern, die getestet wurden, lief offensichtlich längst nicht alles so, wie man es sich gewünscht hätte. So zum Beispiel bei Herman, einem anderen Gast des gleichen Hotels. Bei der Probennahme wurde ihm eine Benachrichtigung innerhalb von 24 Stunden versprochen – falls er Corona-positiv sei. Da er keine Benachrichtigung bekam, setzte er nach Ablauf der Wartefrist sein normales Leben fort. Nach drei Tagen erhielt er dann aber den Positiv-Befund. Seine Probe war tagelang zwischen verschiedenen Laboren unterwegs gewesen. Er habe durch diese Verzögerung vermutlich viele Menschen infiziert – und das ohne es zu wollen.
Kein Einzelfall. In einer anderen Familie wurde zunächst der Ehemann positiv getestet, danach dann Frau und Kinder. Aber zu diesem Zeitpunkt war das Testsystem offensichtlich bereits so überlastet, dass es bei ihr geschlagene drei Wochen dauerte, bis sie mehr oder weniger durch Zufall bei einem Anruf bei ihrem Hausarzt erfuhr, dass auch sie infiziert war. Die Proben der Kinder wurden überhaupt nicht analysiert.
Genauso schlecht funktionierte die Ermittlung der Personen, mit denen die Infizierten Kontakt gehabt hatten. Sie sei zwar von den "Corona-Detektiven" nach den Kontaktdaten der Menschen gefragt worden, mit denen sie im Urlaub gewesen sei, aber dann sei nichts weiter passiert. Bei Dennis fand noch nicht einmal eine Kontaktaufnahme durch einen Contact Tracer statt. Er könne das überhaupt nicht nachvollziehen, vor allem weil er wohl zu den ersten 50 bestätigten Corona-Fällen in Belgien gehört habe.
Auch wenn das Einzelschicksale sind, gerade in den ersten, wohl entscheidenden Wochen scheint Belgien geradezu überrumpelt worden zu sein.
De Block: Belgien hat Coronavirus unterschätzt
In der VRT-Reportage gibt die föderale Gesundheitsministerin Maggie De Block zu, dass auch in Belgien das Coronavirus anfangs unterschätzt worden sei, sowohl von den Wissenschaftlern und der Weltgesundheitsorganisation als auch der EU-Kommission und den Politikern. Und sich selbst wolle sie da sicher nicht ausnehmen.
Man habe seine Einschätzung eben nur darauf stützen können, was zu diesem Zeitpunkt über das neue Virus bekannt gewesen sei. Es habe geheißen, es wäre wie eine milde Grippe, nur etwas ansteckender.
Die ganze Pano-Reportage ist am Mittwochabend um 20:45 Uhr auf Eén zu sehen.
Boris Schmidt