"Wir sind heißer als das Klima": Diesen Slogan hat man im Jahr 2019 unzählige Male gehört. Das ganze Jahr steht im Zeichen der Klimademos. Anfang Januar gehen die Schüler erstmals auf die Straße, um für eine ehrgeizigere Klimaschutzpolitik zu demonstrieren. Von da an wiederholt sich das jeden Donnerstag.
Eins der Gesichter der Bewegung ist die 17-jährige Anuna De Wever. Und die ist überwältigt angesichts des Erfolges: "Alle kommen nach Brüssel, um hier etwas für das Klima zu tun", sagt Anuna De Wever. "Das ist echt unglaublich. Alle hier sagen sich ja: Verdammt, liebe Politiker, das ist unsere Botschaft. So kann es nicht weitergehen".
Bald sind es Tausende Jugendliche, die jeden Donnerstag die Schule schwänzen, um für das Klima auf die Straße zu gehen. Erst nur in Brüssel, dann im ganzen Land. 35.000 allein bei der dritten Kundgebung Ende Januar.
König Philippe: Sorgen ernst nehmen
Die Schüler schaffen es tatsächlich, das Thema auf die Agenda zu setzen. Sogar König Philippe ruft beim Neujahrsempfang im Palast dazu auf, die Sorgen der Schüler ernst zu nehmen.
Die junge Generation habe ein scharfes Bewusstsein für die Bedürfnisse unseres Planeten, sagt König Philippe. Möge man diesen jungen Menschen den Platz einräumen, der ihnen zukommt, und mit ihnen zusammen ein starkes Fundament bauen, das ihnen Halt bietet.
Vorläufiger Höhepunkt ist der 27. Januar: 70.000 Menschen jeden Alters nehmen in Brüssel an einem Marsch für das Klima teil.
Das Ganze setzt die Politik mehr denn je unter Zugzwang. Wobei: Eine Regierung, die neue Initiativen starten könnte, gibt es nicht. Kurz vor Weihnachten 2018 hatte Premier Charles Michel seinen Rücktritt eingereicht. Nach dem Ausstieg der N-VA hatte er es nicht geschafft, mit einer Minderheitsregierung durchzustarten. Heißt: Das Kabinett ist nur noch geschäftsführend im Amt. Und das noch mindestens bis zu den Wahlen. Die sollen am 26. Mai stattfinden: Es ist der Tag, auf den innenpolitisch alle Welt hinfiebert.
Es brodelt an der Sozialfront
Einige Parameter sind aber schon zu Beginn des Jahres im roten Bereich. Das Budget entgleist, das wird schon im Januar klar. Ein Grund dafür ist, dass der Haushalt 2019 nicht mehr vom Parlament verabschiedet werden konnte.
Auch beim Telekomunternehmen Proximus beginnt das Jahr mit einer eiskalten Dusche. Nach den Plänen der Direktion sollen 1.900 Arbeitsplätze abgebaut werden: rund einer von sechs. Man wolle das Unternehmen fit für die Zukunft machen.
"Wir sind schockiert", sagt Bart Neyens von der CGSP. "Wir waren schon erschrocken, als wir die ersten Gerüchte gehört hatten. Jetzt, da es amtlich ist, sind wir es erst recht."
"Und dann steht auch noch die Gefahr von betriebsbedingten Kündigungen im Raum", fügt Nancy Fonteyn von der christlichen Gewerkschaft CSC hinzu. "Das ist eine Katastrophe."
Der drohende Kahlschlag bei Proximus sorgt dafür, dass es an der Sozialfront noch ein bisschen mehr brodelt. Der Haussegen hängt ohnehin schon schief. Im Januar stehen die Zeichen auf Streik. Die drei Gewerkschaften rufen gemeinsam zum "Nationalen Streik" auf. Sie wollen damit gegen die stockenden Tarifverhandlungen protestieren.
"Am 13. Februar soll in möglichst vielen Betrieben gestreikt werden". Kampfansage von Marc Leemans, dem Vorsitzenden der christlichen Gewerkschaft CSC. Der rote Kollege, FGTB-Chef Robert Vertenueil, bläst in dasselbe Horn: "Streik! Im ganzen Land. In allen Sektoren. Alle gemeinsam."
Nach zähem Ringen werden sich Arbeitgeber und Gewerkschaften sechs Wochen später dann doch auf ein neues Rahmentarifabkommen einigen. Wobei die sozialistische FGTB - wie so oft - die Vereinbarung nur bedingt mitträgt.
Prinz Laurent sorgt beinahe für Staatsaffäre
Immer noch im Februar sorgt Prinz Laurent für Aufregung. Es geht um Geld. "Wieder einmal", sagt man sich zunächst. Doch diesmal scheint der Bruder des Königs tatsächlich einen handfesten Skandal aufgedeckt zu haben. Im Mittelpunkt stehen dabei Geld aus Libyen.
Prinz Laurent wartet selbst seit einiger Zeit auf eine Entschädigung wegen eines Geschäfts in Libyen, das geplatzt ist. Auf Konten in Belgien liegen zwar 14 Milliarden Dollar aus Libyen, nur sind die seit dem Sturz von Muammar al-Gaddafi eingefroren. Der Prinz und seine Rechtsbeistände haben aber festgestellt, dass die Zinserträge abgeflossen sind. Das hat dazu geführt, dass Belgien von den Vereinten Nationen heftigst gerüffelt wurde. Laut einem UN-Bericht ist es sogar so, dass man nicht ausschließen kann, dass dieses Geld in Waffen geflossen ist - in die Hände von terroristischen Gruppen. Das sei doch inakzeptabel, sagt Prinz Laurent.
Auf den ersten Blick eine potentielle Staatsaffäre. Hier gerät schnell der Außenminister Didier Reynders unter Druck. Der war nämlich, wie sich später herausstellen sollte, darüber im Bilde, dass eigentlich eingefrorene libysche Gelder abgeflossen sind. Die Geschichte ist aber irgendwie später im Sand verlaufen.
"Was machen wir mit den belgischen Syrienkämpfern?"
Apropos Außenpolitik: Im Februar erhöhen die USA den Druck auf ihre Verbündeten. Washington erwartet, dass die europäischen Staaten ihre IS-Kämpfer zurücknehmen. Ansonsten werde man gezwungen sein, sie freizulassen, so die gewohnt unverhohlene Drohung von Präsident Donald Trump.
Und damit stellt sich die Frage, die sich längst stellen musste, plötzlich ziemlich unmittelbar und dringend: "Was machen wir mit den belgischen Syrienkämpfern und ihren Familien?". Eine heikle Frage, zumal drei Monate vor der Wahl. Er persönlich plädiere dafür, dass die Dschihadisten vor Ort vor Gericht gestellt werden, sagte der geschäftsführende Premier Charles Michel. Es müsse doch möglich sein, mit den USA über das Schicksal der Syrienkämpfer zu beraten - dies im Sinne auch der belgischen Sicherheitsinteressen.
Die Frage nach dem Umgang mit den belgischen IS-Kämpfern sollte im Herbst dann nochmal richtig akut werden, und zwar wegen der türkischen Offensive in Nordsyrien. Eine wirkliche Lösung gibt es aber immer noch nicht.
In der Zwischenzeit demonstrieren die Schüler weiterhin jeden Donnerstag für eine entschlossenere Klimaschutzpolitik. Im Februar ist die Begründerin der Bewegung in Brüssel: die 16-jährige Greta Thunberg. "Wir schwänzen die Schule, weil wir unsere Hausaufgaben gemacht haben", sagt sie kämpferisch. "Wir wissen, dass die meisten Politiker nicht mit uns reden wollen. Gut, wir wollen auch nicht mit ihnen reden. Die Politiker sollten stattdessen mit Wissenschaftlern reden."
Die Klimaproteste werden zunehmend zum beherrschenden Thema im Wahlkampf. Und damit kann offensichtlich nicht jeder umgehen. Die flämische Umweltministerin Joke Schauvliege stolpert sogar über die Geschichte. Die CD&V-Politikerin hatte sinngemäß behauptet, die Teilnehmer an den Klimaschutz-Kundgebungen würden manipuliert. Sie hatte sich dabei auch auf entsprechende Informationen des Staatsschutzes berufen, also des Inlandsgeheimdienstes. Eine Verschwörung also, gegen sie und vor allem gegen die Bauern. Schauvliege ist ja auch für Landwirtschaft zuständig. Die These ist so abstrus, dass sie am Ende unter Tränen zurücktreten muss.
In Flandern ist es ein Rücktritt, in der Wallonie ist es ein Austritt, der hohe Wellen schlägt. Die bis dahin eher unbekannte MR-Hinterbänklerin Patricia Potigny sorgt für einen Paukenschlag. Im März kehrt die 63-Jährige ihrer Partei den Rücken und schließt sich der neuen Bewegung des abtrünnigen MR-Politikers Alain Destexhe an. Der hatte Ende Februar seine "Listes Destexhe" gegründet. Sie habe den Eindruck, dass ihre bisherige Partei, die MR, ihren Kompass verloren habe, begründet Patricia Potigny ihren Schritt. Die MR habe keine klare Linie mehr und habe die Alltagsprobleme der Menschen aus den Augen verloren.
Was nach einer Fußnote klingen kann, ist in Wahrheit eine politische Bombe. Die Koalition in Namur aus MR und CDH verfügt nämlich nur über die knappste aller Mehrheiten: ein Sitz. Und dieser Sitz ist mit dem Parteiaustritt von Patricia Potigny futsch. Die illustre Unbekannte aus Charleroi hat ihre 15 Minuten Ruhm - und die Regierung Borsus ein ausgewachsenes Problem. Das sich auch nicht lösen lässt. Von jetzt an und bis zur Wahl ist das Wallonische Parlament mehr oder weniger im Wachkoma.
Sozialkonflikt bei Skeyes sorgt für Ärger im Flugverkehr
Am belgischen Himmel geht in diesen Frühlingstagen aber auch mitunter nicht mehr viel. Immer wieder muss der Luftraum zeitweilig gesperrt werden: Anfang April innerhalb einer Woche gleich fünf Mal. Die Begründung ist immer die gleiche: Kurz vor Dienstantritt melden sich Fluglotsen krank. Und dann ist es offensichtlich unmöglich, Ersatz zu finden.
Dabei ist es ein offenes Geheimnis, dass wohl mehr dahintersteckt: Bei der Flugaufsicht Skeyes schwelt schon seit Wochen ein Sozialkonflikt. Die Fluglotsen verlangen insbesondere bessere Arbeitsbedingungen. Wochenlang geht das so. Airlines und Flughafenbetreiber sind mit den Nerven am Ende. "Wir sind stinksauer", wettert etwa der Direktor des Lütticher Flughafens, Luc Partoune, der dann auch den entsprechenden Wortschatz verwendet: "Die Fluglotsen reiten uns alle in die Scheiße. So geht es nicht weiter", sagt Partoune. Auch die Politik geht auf die Barrikaden. Der Konflikt sollte sich aber noch über Wochen hinziehen.
Grüne Welle?
Sturm im belgischen Luftraum also. Die Grünen scheinen ihrerseits aber auch den Wind in den Segeln zu haben. Aus anderen Gründen freilich. Umfragen sagen ihnen ein tolles Ergebnis bei der Wahl im Mai voraus. Man spricht von einer bevorstehenden "grünen Welle". Ecolo und Groen surfen auf dieser Welle.
Im März legen Wissenschaftler und Universitätsdozenten den Entwurf eines Klimagesetzes vor. Grünen-Parlamentarier machen sich sofort zum Anwalt des Entwurfs und hinterlegen ihn in der Kammer. Einige andere Fraktionen signalisieren gleich ihre Zustimmung. Da gibt es nur ein Problem: Durch dieses Gesetz würden die Klimaschutzziele für Belgien in der Verfassung verankert. Nur ist dafür eben eine Änderung der Verfassung nötig. Und dafür braucht man eine Zweidrittelmehrheit im Parlament.
Nicht zuletzt das lässt einige Fraktionen zögern. Man befürchtet, dass eine Verfassungsänderung bei einigen Parteien auch den gemeinschaftspolitischen Appetit wecken könnte. Wir wollen nicht mit dem Feuer spielen, sagt der amtierende Premierminister und MR-Vorsitzende Charles Michel.
Die MR wird ihre Meinung noch ändern. Die flämischen Mitte-Rechts-Parteien sind und bleiben aber geschlossen gegen das Gesetz. Grob zusammengefasst wollen sie sich nicht über die Verfassung auf Klimaschutzziele festnageln lassen. 29. März: Die entscheidende Abstimmung. Parlamentspräsident Siegfried Bracke verkündet das Ergebnis: "142 Stimmen wurden abgegeben. 76 dafür, 66 dagegen. Damit ist der Vorschlag abgelehnt." Es war eine Mehrheit, aber eben keine Zweidrittelmehrheit.
Und dabei hatten die Klimaschützer zuletzt den Druck doch nochmal erheblich erhöht. Sie sei total enttäuscht, reagierte die junge Klimaaktivistin Anuna De Wever. Und sie fühle sich auch beleidigt. Diese Politiker sorgten dafür, dass die junge Generation ihr Vertrauen in die Politik verliere.
Brexit-Frust
In diesem Frühjahr 2019 gibt es aber neben dem Klima noch einen anderen Dauerbrenner: Den Brexit. Am 29. März ist eigentlich Zapfenstreich. Dann soll Großbritannien aus der EU austreten. Die britische Premierministerin Theresa May hat mit den Noch-EU-Partnern einen Deal ausgehandelt. Jetzt muss sie den Text nur noch durchs Parlament bekommen. "Nur" ist gut. Ein ums andere Mal verliert May die Abstimmung.
Eine Mehrheit gibt es im britischen Unterhaus im Grunde für gar nichts: Nicht für einen Deal, aber auch nicht für einen No-Deal-Brexit. Und auch nicht für ein neues Referendum. Frust spricht auch aus den Worten des amtierenden Premierministers Charles Michel. "Bedauerlich, dass uns die Briten zum x-ten Mal sagen, was sie nicht wollen, aber nicht, was sie wollen".
21. und 22. März: Der EU-Gipfel der Entscheidung. Einen Deal gibt es nicht. Die Briten bitten um einen Aufschub.
Das ist keine Formalität. Die 27 EU-Staaten sind mit ihrer Geduld am Ende. Am Ende wird eine, man könnte sagen, "doppelte" Deadline festgelegt. Entweder das Parlament in London verabschiedet den Brexit-Deal von Theresa May, dann gilt ein Aufschub bis zum 22. Mai und dann gibt es einen geregelten Austritt. Sollte das britische Unterhaus dem Deal nicht zustimmen, dann muss London bis zum 12. April entscheiden, ob das Land Europawahlen organisiert oder nicht. Denn dann ist sicher, dass Großbritannien auch nach den Wahlen vom 26. Mai noch Teil der Europäischen Union ist. Ohne Wahlen wäre Großbritannien ohne Deal draußen.
Theresa May appelliert also noch einmal an die Abgeordneten, nun doch noch den Deal zu verabschieden. "Ich hoffe, dass sich doch jetzt wirklich alle dessen bewusst sind, dass wir an einem Punkt der Entscheidung sind."
Es hilft alles nichts. Das britische Parlament wird auch den Deal auch zum dritten Mal abschmettern. In London entscheidet man sich dann aber dafür, tatsächlich Europawahlen zu organisieren.
Bei einem Sondergipfel Anfang April nehmen die EU-Staaten das zur Kenntnis und gewähren den Briten eine dritte Fristverlängerung. Neues Stichdatum ist der 31. Oktober. Wenn die Briten es vorher schaffen, den Deal über die Parlamentsbühne zu bringen: umso besser. Flextension wird diese Lösung getauft - eine flexible Verlängerung.
Notre-Dame in Flammen
Ein Moment, der sich wohl ins kollektive Gedächtnis einbrennen wird: Der rotglühende Dachreiter der Kathedrale Notre-Dame fällt in sich zusammen und knickt dann ab. Der Spitzturm, der die Stelle markiert, wo sich Längs- und Querschiff treffen, geht buchstäblich in Rauch auf.
Am 15. April wird eins der Wahrzeichen von Paris, der meistbesuchte Ort in Frankreich, ein Symbolbauwerk Europas, und Weltkulturerbe Raub der Flammen. Zwar kann die steinerne Grundstruktur der Kirche gerettet werden. Der Dachstuhl und auch der Dachreiter sind aber unwiederbringlich verloren. Und auch im Innenraum ist immenser Schaden entstanden.
Die Katastrophe lässt ganz Europa innehalten. Vielen Menschen, nicht nur Franzosen, verschlägt es den Atem.
Premierminister Charles Michel zeigt sich schockiert. EU-Ratspräsident Donald Tusk spricht Frankreich sein Mitgefühl und seine Unterstützung aus. "Wir werden die Kathedrale wiederaufbauen", verspricht seinerseits kämpferisch der französische Präsident Emmanuel Macron. "Das ist das, was die Franzosen erwarten. Das ist das, was unsere Geschichte verdient, weil es unser Schicksal ist."
Tragödie um Julie Van Espen
Eine Tragödie anderer Art sorgt zwei Wochen später in Belgien für tiefe Betroffenheit und auch Empörung. Im Albert-Kanal in der Nähe von Antwerpen wird die Leiche der 23-jährigen Julie Van Espen entdeckt. Nach der Studentin wird seit Tagen gesucht. Die junge Frau wurde offensichtlich das Opfer eines Gewaltverbrechens. Tiefe Trauer und Bestürzung in Schilde, dem Wohnort der jungen Frau.
Schnell wird ein Verdächtiger aufgegriffen, der auch die Tat gesteht, wie eine Justizsprecherin bestätigt. Der Mann habe ausgesagt, dass er verantwortlich sei für den Tod von Julie Van Espen. Der Untersuchungsrichter habe denn auch Haftbefehl erlassen.
Was aber für besondere Entrüstung sorgt: Dieser Steve Bakelmans hat ein ellenlanges Strafregister, wurde bereits zwei Mal wegen Vergewaltigung verurteilt und hätte eigentlich im Gefängnis sitzen müssen. 2017 war er zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, hatte dagegen jedoch Berufung eingelegt und blieb deshalb vorläufig in Freiheit. Die Justiz gerät ins Kreuzfeuer der Kritik. Und auch der zuständige Justizminister Koen Geens. Der will sich aber den Schuh nicht anziehen: Die Justiz sei unabhängig und autonom. Allein die Magistratur entscheide über die Prioritäten und die Funktionsweise.
Wahlkampf auf der Zielgeraden
Der Wahlkampf ist derweil auf der Zielgeraden. Wirklich spannend war der politische Schlagabtausch nicht. Man hatte eher den Eindruck, dass sich niemand so wirklich aus dem Fenster lehnen wollte, dass die Parteien den Wahlkampf quasi "aussitzen" wollten. Nicht zuletzt wegen der anhaltenden Klimaproteste stehen vor allem die Grünen im Fokus. Ihre exzellenten Umfrageergebnisse machen sie aber auch zur Zielscheibe der anderen Parteien.
Zwar tun sich die Grünen ohnehin schon schwer, ihre Ideen zu verkaufen. Besonders die Liberalen und die N-VA schießen aber aus allen Rohren auf die Umweltparteien. Die MR hatte Ecolo in einem umstrittenen Werbespot unterstellt, dass die Grünen eine Fleischsteuer einführen wollten. N-VA-Chef Bart De Wever wiederholt gebetsmühlenartig, dass die Grünen das Land mit einem Steuer-Tsunami überziehen wollen. "Ihre Pläne kosten ein Vermögen", wendet sich De Wever in der VRT an Groen-Chefin Meyrem Almaci. "Hören Sie doch auf, den Menschen Angst zu machen", giftet Almaci.
"Das sind alles Fakten", erwidert De Wever. Nur: Genau das sehen die Grünen anders. Sie sehen sich als das Opfer einer regelrechten Verleumdungskampagne.
"Ich habe die Nase gestrichen voll", sagt der Groen-Spitzenpolitiker Kristof Calvo scheinbar angeschlagen in eine VRT-Kamera. "Das ist Rufmord, und zudem auf den Mann gespielt", so Calvo. Groen wolle nur seine Ideen und Ideale vertreten. Das hier sei aber kein Wahlkampf mehr.
Der 26. Mai. Der Superwahlsonntag. Alle Parlamente werden neu zusammengestellt. In der Wallonie können vor allem Ecolo und die marxistische PTB Stimmengewinne verzeichnen. Die PS kann trotz der Skandale von 2018 ein respektables Ergebnis einfahren, in dem Sinne, dass sich die Verluste noch in Grenzen halten. Die MR schneidet auch eher schlecht ab, aber nicht so schlecht wie von den Umfragen vorhergesagt.
Superwahlsonntag wird zum schwarzen Sonntag
In Flandern sorgt die Wahl demgegenüber für einen Erdrutsch: Jubelnde Vlaams-Belang-Mitglieder, die ihren Parteivorsitzenden feiern. Der junge Tom Van Grieken hat die Rechtsradikalen zu einem beeindruckenden Erfolg geführt. Der rechtsextreme Vlaams Belang wird mit 18,5 Prozent zweitstärkste Kraft in Flandern - das ist ein Plus von 13 Prozentpunkten.
Schon am Wahlabend spricht man denn auch von einem neuen "schwarzen Sonntag". Und gleich stellt sich denn auch schon die Gretchenfrage: Wird der Cordon sanitaire halten, also die Bannmeile um den Vlaams Belang, die jede Koalition mit den Rechtsextremen verbietet? Da richten sich erstmal die Augen auf die liberale OpenVLD. Die OpenVLD-Chefin Gwendolyn Rutten schafft dann aber noch am Wahlabend klare Verhältnisse: "Wir werden nie mit dem Vlaams Belang zusammenarbeiten."
Es ist aber immer noch die N-VA, die in Flandern einsam an der Spitze steht. Nur hat die sonst so erfolgsverwöhnte Partei doch zum ersten Mal einen schmerzhaften Dämpfer kassiert: ein Minus von sieben Prozent. Parteichef Bart De Wever räumt die Niederlage ein, kann aber in dem Wahlergebnis auch - aus seiner Sicht - positive Entwicklungen erkennen: Flandern habe flämisch-national gewählt, mehr als je zuvor, sagte De Wever.
Für die traditionellen Parteien ist es ebenfalls ein schwarzer Sonntag. Die Christdemokraten und die Sozialisten fahren das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte ein. Die Liberalen können den Schaden noch in Grenzen halten. Groen gewinnt zwei Sitze hinzu. Gemessen an den Umfragewerten ist das aber wohl eine Enttäuschung. Wie Sieger können sich die Grünen jedenfalls nicht fühlen.
Der Wähler hat die Karten kompliziert gelegt. In Flandern führt nahezu kein Weg an der N-VA vorbei. Auf flämischer Ebene ist eine Regierung ohne die Nationalistenpartei unmöglich. Auf der föderalen Ebene könnte man die N-VA umschiffen, eine solche Koalition hätte aber keine Mehrheit in Flandern.
Am Tag nach der Wahl spricht De Wever hier aber eine sehr deutliche Warnung aus. "Nach einem solchen Wahlresultat, wenn so viele Menschen flämisch-nationalistisch gewählt haben, kann man sich doch nicht einfach darüber hinwegsetzen. Wenn man jetzt eine anti-flämische Regierung macht, dann ist es vorbei: 'Game-Over'". Dieser Ausspruch scheint irgendwie bis heute nachzuhallen.
Einen Tag später zeigt PS-Chef Elio Di Rupo aber, was er von solchen Drohungen hält: Es gäbe die Möglichkeit, mit den vier verbleibenden demokratischen Parteien aus Flandern eine Koalition zu bilden, sagt Di Rupo, also: CD&V, OpenVLD, Groen und SP.A. Er sage ja nicht, dass er das jetzt beabsichtige, aber darauf könnte es am Ende hinauslaufen. Auch dieser Satz hallt bis heute nach.
In der Zwischenzeit führt König Philippe Konsultationen. Und er sorgt da auch für den Beginn einer Polemik. Das Staatsoberhaupt empfängt nämlich auch den Vorsitzenden des Vlaams Belang, was man dem König vor allem auf frankophoner Seite übelnimmt.
Am Freitag nach der Wahl ernennt er gleich zwei Informatoren: einen Liberalen und einen Sozialisten. Die beiden Altmeister Didier Reynders und Johan Vande Lanotte betreten die Arena. Sie sollen nach möglichen Schnittmengen suchen. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob es nicht doch einen Weg gibt, N-VA und PS zusammenzubringen.
Es sind Tage des Abtastens, des Vorfühlens, des Probierens und Provozierens. Die N-VA scheint eine Koalition mit der PS erst noch grundsätzlich auszuschließen. Danach zeigen sich die Nationalisten offener, Grundbedingung wäre dann aber eine grundlegende Umordnung des Staatsaufbaus: Die N-VA will den Konföderalismus, was auf die Spaltung des Landes hinauslaufen würde.
Die PS scheint hin- und hergerissen zu sein. PS-Chef Elio Di Rupo lässt drei Wochen nach der Wahl durchblicken, dass man zumindest mal miteinander reden könnte, wenn denn die N-VA von ihren institutionellen Forderungen Abstand nehmen würde. Fast genau zwölf Stunden später sagt die Nummer zwei der PS, Paul Magnette, dann aber genau das Gegenteil. "Unsere Position hat sich nicht geändert. Was wir vor der Wahl gesagt haben, gilt mehr denn je: entweder die N-VA oder die PS." Die PS werde sich jedenfalls nicht mit der N-VA in ein Regierungsboot setzen. Auch dieser Satz scheint bis heute nachzuhallen.
Klatschmohn für die Wallonie?
Das Wahlergebnis hat für ein regelrechtes Patt gesorgt. Deswegen wird stillschweigend vereinbart, die föderale Ebene erstmal ruhen zu lassen. Stattdessen sollen erst in den drei Regionen neue Koalitionen auf die Beine gestellt werden. In der Wallonie wird man wochenlang nur über eine Ackerblume sprechen. "Klatschmohnregierung: Wir meinen damit eine Koalition um die Achse PS-Ecolo, aber vor allem eine 'offene' Regierung", sagt der Ecolo-Co-Vorsitzende Jean-Marc Nollet Mitte Juni. "Offen" heißt konkret: ergänzt durch Minister aus der Zivilgesellschaft.
"Klatschmohn" natürlich erstmal wegen der Farben: Rot und Grün. "Offen" soll die Regierung sein, das aber auch und vor allem aus einem Grund: PS und Ecolo haben zusammen keine Mehrheit. Das wäre also eine Minderheitsregierung, Nollet hofft also nicht nur auf Unterstützung aus der Zivilgesellschaft, sondern auch auf Mehrheitsbeschaffer im Parlament in Namur.
Eine Minderheitsregierung, darüber spricht man auch in Flandern. Nur hört der Vergleich da auch schon auf. Die N-VA hat sich nämlich nach einer ersten Konsultationsrunde dazu entschlossen, erst mit dem rechtsextremen Vlaams Belang zu sprechen. Und zwar ausschließlich. Beide Parteien hätten aber keine Mehrheit im flämischen Parlament. Und bis zum Beweis des Gegenteils ist keine andere flämische Partei bereit, mit dem Belang in ein Boot zu steigen.
Warum redet die N-VA doch mit dem Vlaams Belang?, fragt man sich. Um ihn zu testen, antwortet sinngemäß der N-VA-Spitzenpolitiker Peter De Roover. "Wenn sich dann zeigt, dass die Positionen des Vlaams Belang denen der N-VA ähneln, dann wären wir doch verrückt, die Wähler auszuschließen, die den Vlaams Belang gewählt haben", sagte De Roover. N-VA und Vlaams Belang werden noch bis August miteinander reden.
Grand Départ
Anfang des Monates Juli richten sich die Augen aber erstmal auf ein Weltereignis. Die Tour de France ist zu Gast in Belgien. In Brüssel fällt sogar der Startschuss für die Grande Boucle und auch noch für die zweite Etappe. Die Hauptstadt ist regelrecht im Ausnahmezustand. Dass Brüssel in diesem Jahr einen solchen Ehrenplatz einnimmt, hat einen guten Grund: Eddy Merckx.
50 Jahre ist es her, dass Eddy Merckx seine erste Tour de France gewonnen hat. Es war der Auftakt zu einer beeindruckenden Serie: Bis 1974 fuhr er fünf Mal im Gelben Trikot über die Ziellinie in Paris. In seiner Heimatstadt hat man Eddy Merckx nicht vergessen. Schon damals, 1969, war er auf der Grand'Place triumphal empfangen worden.
Politik im Sommer?
Anfang Juli sollte sich der Politikbetrieb eigentlich so langsam aber sicher in den Urlaub verabschieden. In der Wallonie sind die Klatschmohn-Träume ausgeträumt. Alle anderen Parteien, die potentiell eine rot-grüne Minderheitsregierung hätten unterstützen können, haben dankend abgewunken. Am 10. Juli lädt die PS als stärkste Kraft in der Wallonie neben Ecolo dann auch die MR zu Gesprächen ein, die dann schnell in Koalitionsverhandlungen münden. Die MR weiß, dass die Roten und Grünen schon Vorarbeit geleistet haben. Dennoch habe man immer gesagt, dass man sich konstruktiv aufstellen wolle, sagte der MR-Spitzenpolitiker und geschäftsführende Ministerpräsident, Willy Borsus.
In Flandern sorgt derweil der Übergangspräsident des Parlaments für dicke Schlagzeilen. Dieser Kris Van Dijck hatte vielleicht seine Ernennung zum Vorsitzenden etwas zu ausgiebig gefeiert. Jedenfalls hatte er einen Unfall gebaut - nichts Schlimmes, nur Blechschaden. Nur stellt sich heraus, dass er zu viel getrunken hatte. Als wäre das nicht schon peinlich genug, kommt ausgerechnet während seiner Rede zum flämischen Gemeinschaftsfeiertag die Eilmeldung, dass der N-VA-Politiker eine Liebhaberin gehabt haben soll, die als "Escortdame" gearbeitet hat.
Nicht nur das: Van Dijck soll versucht haben, dafür zu sorgen, dass die Frau in den Genuss von Arbeitslosengeld kommt. Dafür sei unter anderem eine Scheinfirma gegründet worden. Keine halbe Stunde nach seiner Festtagsrede tritt Van Dijck zurück, der flämische Feiertag endet im Chaos.
Kurz vor dem Nationalfeiertag gibt es dann auch mal eine gute Neuigkeit aus der Innenpolitik. 17. Juli: Nach der Deutschsprachigen Gemeinschaft hat jetzt auch die Region Brüssel eine neue Regierung. Knapp zwei Monate nach der Wahl ist das tatsächlich ein Ereignis. In der Wallonie wird wenigstens verhandelt, in Flandern redet die N-VA nach wie vor mit dem Vlaams Belang. Und auf der föderalen Ebene passiert gar nichts.
Die Rede zum Nationalfeiertag von König Philippe steht denn auch ganz im Zeichen des Dialogs. Das Staatsoberhaupt ruft die Parteien dazu auf, sich zusammenzuraufen.
Wetter - und andere Alarmstufen
Ende Juli: Halb Europa ächzt unter einer Hitzewelle. In der Woche nach dem Nationalfeiertag purzeln die Rekorde quasi wie Domino-Steine. An zwei Tagen hintereinander steigt das Thermometer auf über 40 Grad. Erstmals in der Geschichte des Landes hat das Königliche Meteorologische Institut Alarmstufe Rot ausgerufen.
Innenpolitisch gibt es Anfang August in Flandern endlich Bewegung. Am 12. August lädt die N-VA dann doch die CD&V und OpenVLD zu Koalitionsgesprächen ein. Die drei Parteien hatten bereits die letzten fünf Jahre zusammen regiert. De Wever legt den Partnern eine "Start-Note" vor. Der Text weist aber doch ziemlich deutliche Spuren der Gespräche auf, die die N-VA wochenlang mit dem rechtsextremen Vlaams Belang geführt hat.
Zum Beispiel will Bart De Wever einen "flämischen Kanon" einführen: Wie er sagt, eine Liste von Schlaglichtern aus der flämischen Kultur und Geschichte, die Flandern als europäische Nation typisiert und die Schüler in Schulen und Neuankömmlinge in Einbürgerungskursen lernen sollen. Dieser "flämische Kanon" sorgt vor allem auf frankophoner Seite für eine Mischung aus Kopfschütteln und Bestürzung.
Wallonie direkt mit heißem Eisen
In der Wallonie sind die Regierungsverhandlungen inzwischen auf der Zielgeraden: Am 9. September steht die neue Koalition aus PS, MR und Ecolo. Ein Regenbogen also, mit an der Spitze Elio Di Rupo. Insbesondere zwei große Ziele hat sich die neue Equipe gesteckt: keine neuen Steuern und einen ausgeglichenen Haushalt bis 2024.
Die erste Bewährungsprobe flattert aber schon wenige Tage später auf den wallonischen Regierungstisch. Bei Nethys ist eine neue Bombe hochgegangen. Es wird bekannt, dass die Tochtergesellschaft der Lütticher Interkommunalen Enodia ihr Tafelsilber regelrecht verscherbeln wollte. Das Telekomunternehmen Voo wurde an einen amerikanischen Investmentfonds verkauft - unter Preis, wie sich später herausstellte. Und zwei weitere Firmen aus dem Nethys-Universum sollen an das Unternehmen Ardentia gehen. Das allerdings gehört François Fornieri. Und der sitzt auch im Nethys-Verwaltungsrat.
All diese Transaktionen wurden Mitte Mai eingefädelt, kurz vor der Wahl also. Obendrauf kommt dann auch noch heraus, dass Stéphane Moreau Geschäftsführer von Ardentia werden soll. Klingt verdächtig nach Selbstbedienung. Die frischgebackene wallonische Regionalregierung zieht die Notbremse. Die drei Transaktionen würden schlicht und einfach für null und nichtig erklärt, sagt Elio Di Rupo.
Die Saga um Enodia-Nethys ist aber damit nicht vorbei. Später wird zudem bekannt, dass sich die Manager um Stéphane Moreau auch schon vor Monaten Abschiedsprämien zugeschustert hatten. Es ist und blieb auch erstmal eine unendliche Geschichte.
Noch eine Saga
Apropos Abgänge: Auch bei Proximus steht ein Wechsel an der Spitze an. Anfang September kündigt Geschäftsführerin Dominique Leroy an, Proximus zu verlassen. Sie will allerdings zu einem direkten Konkurrenten wechseln, nämlich zum niederländischen Telekomunternehmen KPN, was schon für Kritik sorgt.
Dann überschlagen sich aber die Ereignisse: Knapp drei Wochen nach ihrer Ankündigung führen Ermittler Hausdurchsuchungen im Büro und auch in der Privatwohnung von Dominique Leroy durch. Der Vorwurf: Insiderhandel. Sie hat ihre Proximus-Aktien verkauft und der Verdacht steht im Raum, dass sie zum Zeitpunkt des Verkaufs schon ihren Abgang entschieden hatte. Die Ermittlungen gegen Dominique Leroy schlagen auch bei ihrem künftigen Arbeitgeber KPN wie eine Bombe ein, der kurzerhand beschließt, sie nicht einzustellen.
Erdbeben in der Reisebranche
Genau zur selben Zeit wird die Tourismus-Branche in ganz Europa von einem regelrechten Erdbeben erschüttert: Der britische Konzern Thomas Cook ist pleite. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf die belgischen Niederlassungen. Erst versucht das Management noch, zumindest einen Teil der Arbeitsplätze zu retten. Am 1. Oktober ist dennoch Schluss.
Geschäftsführer Jan Dekeyser bringt es mit einem Bild auf den Punkt: Der Tsunami, den das Erdbeben der Pleite des britischen Mutterhauses ausgelöst hat, war am Ende doch zu groß. Den Verantwortlichen ist es nicht gelungen, eine Übergangsfinanzierung zu gewährleisten, um das Unternehmen am Leben zu halten. Jetzt verlieren also 500 Mitarbeiter ihren Job. Immerhin wird später ein spanisches Unternehmen Teile von Thomas Cook Belgien doch übernehmen.
Das Drama bei Thomas Cook hat auch Auswirkungen auf Brussels Airlines. Die belgische Fluggesellschaft ist inzwischen zu 100 Prozent in den Händen der deutschen Lufthansa. Zwar konnte der Markenname erhalten werden, nur verlangen die Bosse in Frankfurt bessere Zahlen. Durch die Streiks bei Skeyes und auch die Pleite von Thomas Cook ist das Geschäftsergebnis zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Direktion verordnet Brussels Airlines eine Rosskur. Genaue Einzelheiten stehen noch aus, doch das könnte schmerzhaft werden.
Flandern als Referenz
Innenpolitisch hat sich inzwischen der Nebel etwas gelichtet. Als letzter Teilstaat hat Anfang Oktober auch Flandern eine neue Regierung. Neuer Ministerpräsident ist der N-VA-Routinier Jan Jambon. Und die neue Equipe will die Latte hochlegen. "Wir wollen, dass Flandern im nächsten Jahrzehnt in Europa zur Referenz wird", sagt Jan Jambon.
Doch hat die neue Equipe eigentlich ihren Start vergeigt. Bei der Debatte über den Haushalt verlässt die Opposition geschlossen den Saal, weil die neue Koalition keine Zahlen vorgelegt hat. Und das wohl nicht ohne Grund: Die Regierung will investieren, doch muss man dafür Geld in die Hand nehmen. Und das muss anderswo eingespart werden. Vor dem Sitz der flämischen Regierung werden sich den ganzen Herbst lang Demonstranten quasi die Klinke in die Hand geben.
Und auch die neue flämische Regierung bekommt gleich ihre erste Bewährungsprobe: Am 10. November wird im limburgischen Bilzen ein zukünftiges Asylbewerberheim angezündet. Das Gebäude war noch unbewohnt, verletzt wurde niemand. Dennoch sitzt der Schock tief. Zumal Zaungäste offensichtlich angesichts des Feuers noch applaudiert haben. "Wir dürfen hier nicht an der Seitenlinie bleiben. Eine solche Tat muss man scharf verurteilen", sagte der neue flämische Innenminister Bart Somers. "Das ist vergleichbar mit Terrorismus."
"Vorregierungsbildner" und Krokodile
Zurück in den September: Jetzt, wo auch Flandern seine Regierung hat, jetzt können sich also endlich die Dinge auf der föderalen Ebene bewegen. Der König schaltet sofort einen Gang höher. Didier Reynders und Johan Vande Lanotte, die seit Ende Mai in königlicher Mission unterwegs waren, werden von ihrer Aufgabe entbunden.
Das Duo, das der König jetzt in die Arena schickt, sorgt für eine kleine Überraschung: sowohl, was die beteiligten Parteien angeht, als auch durch den Titel, mit dem der Palast sie versieht. Der N-VA-Altmeister Geert Bourgeois und der PS-Routinier Rudy Demotte werden zu "Vorregierungsbildnern" gemacht. N-VA und PS? Vorregierungsbildner? Ist eine Koalition zwischen den beiden scheinbar unversöhnlichen Erzfeinden vielleicht doch möglich?
Es ist Anfang Oktober. Jeder weiß, dass jetzt doch langsam was passieren muss. Spätestens seit dem Ende der Sommerpause blinken einige Warnleuchten. Der Haushalt entgleist. Immer schneller. Es ist wie ein Schneeball. Der geschäftsführende Finanzminister Alexander De Croo hatte schon im Juli davor gewarnt, dass es nicht so weitergehen könne. Eben dieser De Croo und auch Charles Michel hatten Ende August dann geheimnisvoll erklärt, dass das mit der Regierungsbildung am Ende doch schneller gehen könnte als allgemein erwartet.
Didier Reynders und Johan Vande Lanotte hatten in ihrem Abschlussbericht ebenfalls empfohlen, dass jetzt N-VA und PS Verantwortung übernehmen müssten. Unmöglich sei das nicht, ganz im Gegenteil. Jetzt müssen beide Parteien ins Wasser springen - ob nun Krokodile drin sind oder nicht. Jetzt also das Duo Bourgeois und Demotte. Und Geert Bourgeois nimmt auch gleich Bezug auf die Krokodile. "Also, ich kann keine Krokodile erkennen. Auch nicht auf der anderen Seite der Sprachgrenze".
Das Tandem Bourgeois-Demotte wird drei Wochen später die Brocken hinschmeißen. Nicht wegen irgendwelcher Krokodile. Geert Bourgeois drückt es so aus: Zwischen beiden Parteien, also PS und N-VA, klaffe ein Graben so tief wie der Grand Canyon. Was jetzt? Über Allerheiligen hat der König Zeit, in sich zu gehen.
Viele der Parteipräsidenten, die das Staatsoberhaupt konsultiert, waren übrigens in dieser Funktion nicht oft bzw. nie im Palast. In diesem Jahr gab es erstaunlich viele Wechsel an der Spitze der diversen Formationen. Bei der CDH hatte Benoît Lutgen schon im Januar das Zepter weitergereicht an Maxime Prévot. Nach der Wahl ging es dann richtig los. Erst hörte Zakia Khattabi als Co-Vorsitzende von Ecolo auf. Bei der PS gab Dauerpräsident Elio Di Rupo im Oktober den Vorsitz ab an Paul Magnette, bei den flämischen Kollegen der SP.A übernahm der blutjunge Conner Rousseau das Ruder.
Michel und Reynders wechseln zur EU
Auch die liberale MR braucht einen neuen Vorsitzenden. Der Grund: Charles Michel hat einen illustren neuen Job ergattern können. Er empfinde es als große Ehre, zum EU-Ratspräsidenten gewählt worden zu sein, sagte Michel nach seiner Wahl im Juli. Im Herbst trat er daraufhin von seinen "belgischen" Ämtern zurück. Seine Nachfolge an der Spitze der Föderalregierung übernimmt Parteikollegin Sophie Wilmès als erste Frau in dieser Funktion. Man müsse sich fragen, warum das so lange dauern musste, sagt Wilmès.
Parteikollege Didier Reynders wechselt ebenfalls zur EU. Er wird Mitglied der neuen EU-Kommission, die mit der Deutschen Ursula von der Leyen auch erstmals von einer Frau geleitet wird.
In London gibt es inzwischen auch einen neuen Premier. Boris Johnson wird es schaffen, Neuwahlen anzusetzen - und die im Dezember auch gewinnen. Der Brexit ist inzwischen beschlossene Sache: Spätestens Ende Januar soll der Ausstritt besiegelt werden. Dann stehen allerdings erst noch Verhandlungen an über die künftigen Wirtschaftsbeziehungen. Der Brexit-Ärger dürfte Europa also erhalten bleiben.
Prinzessin Elisabeth feiert 18. Geburtstag
Es gibt in diesem Herbst aber auch einen Geburtstag zu feiern. Prinzessin Elisabeth wird 18. Am 25. Oktober findet im Palast eine kurze, aber sehr emotionale Feier statt. Eingeladen sind unter anderem auch Altersgenossen der Prinzessin. Einen Satz sagt sie in den drei Landessprachen, und diesen Satz kann man fast schon als das Manifest einer künftigen Königin bezeichnen: "Das Land kann auf mich zählen" - eine Art formelles Bekenntnis zu der Rolle, die sie ab jetzt auszufüllen hat. Denn jetzt ist Elisabeth volljährig und damit die tatsächliche Thronfolgerin, jetzt ist die rechtliche Bedingung erfüllt, um ihrem Vater nachfolgen zu können.
Apropos Nachfolge - zurück zu Charles Michel: Die Frage, wer ihm als MR-Chef nachfolgen soll, führt zu parteiinternen Verwerfungen. Im zweiten Wahlgang stehen sich Routinier Denis Ducarme und der junge, quirlige Georges-Louis Bouchez gegenüber. Beide schenken sich nichts. Am Ende macht Bouchez das Rennen. Und schließlich bekommt auch die CD&V im Dezember einen neuen Präsidenten, nämlich den 53-jährigen Joachim Coens. Von einigen dieser "Neulinge" wird man sehr schnell hören.
Kein Regenbogen
Erst steht Paul Magnette im Fokus. Nach Allerheiligen macht der König ihn zum neuen Informator. Das war doch eine kleine Überraschung: Mit dem neuen PS-Chef betritt ein Schwergewicht die Arena. Er selbst macht sich nach eigenen Worten aber keine Illusionen. Nach seinen Erfolgsaussichten gefragt, sagt Magnette mit entwaffnender Offenheit: "zwischen zwei und drei auf einer Skala bis zehn."
Und doch scheint Bewegung in die festgefahrene Situation zu kommen. Magnette erklärt zwar, dass er lediglich nach "inhaltlichen Schnittmengen" suche, es wird aber schnell klar, dass er eigentlich an einem Regenbogen arbeitet: an einer Koalition aus Sozialisten, Liberalen und Grünen. Da gibt es aber gleich zwei Probleme: Eine solche Koalition hätte in der Kammer eine Mehrheit von nur einem Sitz. Und auf der flämischen Seite wäre diese Allianz sehr weit von einer Mehrheit entfernt.
Helfen könnte die CD&V. Doch sind die flämischen Christdemokraten der Ansicht, dass erst auch N-VA-Chef Bart De Wever die Möglichkeit bekommen sollte, es zu versuchen. Dabei bleibt es auch. Nach etwas mehr als einen Monat bittet Paul Magnette den König, von seiner Mission als Informator entbunden zu werden.
Begleitet wird das von einem hämischen Kommentar von Bart De Wever. Er sei bereit, in den Ring zu steigen, sagt De Wever. Allerdings habe er Magnette getroffen, und der habe natürlich noch den Regenbogenbrei zwischen den Zähnen. "Da wird wohl eine kernige flämische Zahnpasta nötig sein, um diesen Geschmack wieder wegzukriegen", sagt Bart De Wever. Klingt so, als hätte sich die Atmosphäre mit der Jahreszeit nur noch weiter abgekühlt.
Bouchez und Coens im Doppel
Wieder muss der König konsultieren. Am 11. Dezember macht er zwei vergleichsweise neue Gesichter zu Informatoren: die neuen Vorsitzenden von CD&V und MR, Joachim Coens und Georges-Louis Bouchez. Beide wollen einen neuen Ansatz wählen: Ihrer Ansicht nach sollte sich eine Koalition um die politische Mitte bilden. Was Georges-Louis Bouchez damit meint, das wäre eine Koalition um die Achse MR-CD&V.
Mit den beiden Informatoren Bouchez und Coens geht es jetzt also ins neue Jahr. Ohne vorgreifen zu wollen - deren Erfolgsaussichten sind nicht besonders gut. Die PS hat in den letzten Dezembertagen über den ehemaligen Vorregierungsbildner Rudy Demotte nochmal aus allen Rohren auf die N-VA geschossen. Eine Regierung mit der N-VA ist damit eigentlich genauso unwahrscheinlich wie eine Regierung ohne die N-VA. Beobachter bezeichnen die Situation inzwischen als "hoffnungslos verfahren".
Mit jedem erfolglosen Anlauf wird die Wahrscheinlichkeit größer, dass es im Frühjahr zu Neuwahlen kommt. Umfragen zufolge wird es da vor allem einen Gewinner geben, nämlich den rechtsextremen Vlaams Belang. Leider nicht die rosigsten Aussichten für 2020.
Roger Pint