Der Krieg geht zu Ende, die deutschen Truppen werden an der Ostfront von den Sowjets und ihren Verbündeten immer weiter gen Westen getrieben. Bei diesem Rückzugsgefecht hinterlassen die Deutschen verbrannte Erde. Auch die Spuren der systematischen Judenvernichtung sollen so weit wie möglich verwischt werden.
Östlich von Danzig liegt das Konzentrationslager Stutthof. Im Januar 1945 sind dort und in den zugehörigen Außenlagern mehr als 40.000 Menschen, meist Juden und viele Frauen interniert. Bewacht wird das Lager von einer kleinen Anzahl von SS-Mitgliedern, der Elitetruppe der Deutschen. Das Gros der Bewacher stellen hingegen andere Kommandos, viele darunter ausländische Kommandos. Und diese sind auch dabei, als Ende Januar der Befehl zum Todesmarsch kommt.
Der flämische Historiker Frank Seberechts kennt sich mit dem Lager aus. Er hat Anfang des Jahres ein Buch veröffentlicht, in dem er sich mit den Gräueltaten beschäftigt, die Flamen während des Zweiten Weltkriegs im Dienst der Deutschen in Osteuropa verübt haben. Er beschreibt die Lage im KZ Stutthof Anfang 1945 wie folgt: "Dort gab es ein paar Dutzend von Schutzkommandos, darunter auch Flamen und französischsprachige Belgier aus Brüssel und der Wallonie. Und sie bewachten auch den Todesmarsch. Zunächst bis nach Königsberg."
Auf den Todesmarsch wurden mehr als 10.000 Insassen des Lagers geschickt. Rund 7.000 von ihnen, wahrscheinlich ausschließlich Frauen, gelangten nach zehn Tagen nach Königsberg. Von dort wurden sie dann weiter an den Küstenort Palmnicken getrieben. Seberechts beschreibt: "Es liegt Schnee, es ist minus 15 bis minus 20 Grad kalt. Die Gefangenen besitzen kaum noch Kleider. Sie tragen dünne Hemdchen, viele haben keine Schuhe mehr."
Was der Historiker dann erzählt, unterlegt die RTBF in ihrem Beitrag, den sie am Dienstag ausgestrahlt hat, mit Geräuschen, um die Dramatik der Ereignisse zu verstärken. "An der Küste werden die Frauen über den Strand zum Meer hingetrieben. Aufs Eis ins eiskalte Wasser. Die Wachleute schießen auf sie. Werfen Granaten nach ihnen. Nur ein paar Dutzend können fliehen", erklärt Seberechts .
Mitte der 1960er Jahre arbeitet die deutsche Justiz das Massaker auf. Zeugenaussagen auch von Überlebenden werden gesammelt. Am Ende umfasst die Prozessakte rund 1.600 Seiten.
Nach den ersten Hinweisen des flämischen Historikers Seberechts, dass bei dem Massaker von Palmnicken wohl auch Wallonen mitgemacht haben, besorgt sich die RTBF die Prozessakten aus Deutschland. Und findet darin tatsächlich Zeugenaussagen über die Anwesenheit von Wallonen bei dem Massaker. Die Wallonen sollen Teil der sogenannten OT-Leute gewesen sein. Die Abkürzung steht für Organisation Todt, womit Arbeitsbataillone der Nazis bezeichnet wurden.
"Auf dem Weg durch Königsberg hatte es bereits Tote gegeben. Wer von den Juden umfiel und nicht weiterkonnte, wurde eben erschossen. Zu den Bewachern gehörten neben den etwa zehn SS-Bewachern aus Königsberg viele OT-Leute. Darunter befanden sich auch Deutsche. Zur Hauptsache handelte es sich bei diesen OT-Leuten aber um Ausländer. Ich weiß ganz genau, dass unter diesen vielen Wallonen und Flamen befunden haben", lautet eine der Aussagen aus der Prozessakte.
Für die RTBF ist damit erstmals bewiesen, dass auch Wallonen im Zweiten Weltkrieg Verbrechen gegen die Menschheit begangen haben, im Dienste der Deutschen. Im Sinne der Wissenschaft wäre es, wenn diese Erkenntnis durch weitere Nachforschungen und Studien vertieft und eventuell ausgeweitet werden könnte.
Kay Wagner