"Jetzt sind die Zahlen da - und sie lassen uns erschaudern", sagt die PS-Abgeordnete Ludivine Dedonder. Der Kollege von der PTB, Steven De Vuyst, greift in die Bilderkiste: "Die Soziale Sicherheit, die Kathedrale der Arbeiterklasse, steht in Flammen."
Die zuständige Ministerin Maggie De Block kann da auch nicht wirklich widersprechen: Der Zustand der föderalen Finanzen ist prekär. Nur sei es eben so, dass die derzeitige Regierung nur geschäftsführend im Amt sei, und dass es ihr deswegen nicht möglich sei, die nötigen Korrekturen vorzunehmen.
Was die reine Feststellung angeht, da ist man sich also schonmal einig. Allerdings ist das Finanzloch dann doch so groß, dass es da eigentlich keinen Interpretationsspielraum gibt. In diesem Jahr wird das Defizit in den Sozialkassen um 1,5 Milliarden Euro drehen, wenn man einen ersten staatlichen Zuschuss schon berücksichtigt. Wie unter anderem die Zeitung Le Soir berichtet, beläuft sich der Fehlbetrag "brutto" sogar auf drei Milliarden allein für 2019.
Das darf man wohl als eine waschechte Entgleisung bezeichnen. Und zu allem Überfluss ist das erst der Anfang. Bei unveränderter Politik sind es im kommenden Jahr schon 3,5 Milliarden. 2024, also gegen Ende der Legislaturperiode, wird sich das Loch in der Sozialen Sicherheit sogar auf über sechs Milliarden belaufen.
Ursachenforschung
Die linken Parteien sehen, wie die Gewerkschaften, ihren Verdacht bestätigt. Von Anfang an hatten sie der Regierung Michel vorgeworfen, dass sie der Sozialen Sicherheit das Wasser abgraben wolle, um dann mit der Heckenschere heranzugehen. "Hatten Sie uns nicht versichert, dass alles in Ordnung sein würde, dass etwa der Taxshift gegenfinanziert sei?", wendet sich Ludivine Dedonder an die liberale Ministerin. "Hatten Sie nicht beteuert, dass die Finanzierung der Sozialen Sicherheit garantiert sei?"
Der PTB-Kollege Steven De Vuyst ist noch schärfer: "Sie und ihre rechte Regierung sind schuld", wettert er in Richtung von Maggie De Block. "Sie haben in den letzten fünf Jahren die Sozialbeiträge gesenkt, was natürlich die Einnahmen gedrückt hat." Genau das haben auch die Bosse der drei großen Gewerkschaften beklagt, unter anderem in einem Offenen Brief, den die Zeitung De Standaard abgedruckt hat.
"Werdet endlich mal wach"
Schützenhilfe bekam De Block derweil von Parlamentariern ihrer eigenen Partei OpenVLD und auch der N-VA. Die Unterstützung schien sie aber gar nicht nötig zu haben. Ihre Antwort fiel messerscharf aus.
Erster Punkt: Nicht die Einnahmen seien das Problem. Die seien sogar noch gestiegen, weil die Regierung tausende neue Jobs geschaffen habe. Nein, was der Sozialen Sicherheit den Hals zuschnüre, das sei die Tatsache, dass die Ausgaben stiegen. De Block nannte ein Plus von zwei Milliarden pro Jahr allein für die Pensionen.
Zweiter Punkt, und da wurde De Block dann ungewöhnlich giftig: Die Beschäftigungsrate in diesem Land sei nach wie vor zu niedrig. Der Prozentsatz der arbeitenden Bevölkerung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung liegt um zehn Punkte unter dem Wert in den Niederlanden. Der holländische Haushaltsüberschuss erkläre sich vor allem dadurch. "Werdet doch endlich mal wach", wendet sich De Block an die Gewerkschaften. "So geht es nicht weiter."
Kopfschütteln bei der linken Opposition, und auch den Gewerkschaftsbossen dürfte diese Antwort nicht gefallen haben. Zumal es so ist, dass die Regierung seit der Reform des Finanzierungssystems nicht mehr dazu angehalten ist, das Loch bedingungslos zu stopfen.
Den entsprechenden Mechanismus könnte man mit "Verantwortlichkeitsanreiz" übersetzen. Ohne Sparmaßnahmen wird es nicht gehen. Und je größer das Loch, desto drastischer die Einschnitte. Der nächste Konflikt zwischen den Gewerkschaften und der Regierung - wenn es denn irgendwann wieder eine gibt - scheint irgendwie schon jetzt seine Schatten vorauszuwerfen.
Roger Pint