Es gibt Dinge, da kann man, wie man sagt, "die Uhr nach stellen". Zu diesen Ereignissen, die also mit der Präzision eines Schweizer Uhrwerks immer wiederkehren, zu diesen "Murmeltiermomenten" gehört der Streit über die sogenannte Revisionserklärung, der die Brüsseler Rue de la Loi vor jeder Wahl erschüttert.
Es ist so: Die Verfassung kann nur geändert werden, wenn das Parlament vor der Wahl eine Liste von Verfassungsartikeln verabschiedet hat, die zur Abänderung freigegeben werden. Da das Umschreiben der Verfassung in diesen quasi Volkssport ist, wird also eine solche Liste vor jeder Wahl verabschiedet.
Die Sache ist natürlich die: Je kürzer diese Liste ausfällt, desto eher kann man eine neue Staatsreform gleich im Keim ersticken. Denn, klar: Wenn Separatisten vom Schlag einer N-VA oder eines Vlaams Belang, das Land weiter spalten wollen, also z.B. die Soziale Sicherheit, dann müssen die entsprechenden Artikel erstmal zur Änderung freigegeben sein; ansonsten braucht man gar nicht anzufangen.
Entsprechend versuchen die frankophonen Parteien also, möglichst wenig in die Revisionserklärung reinzupacken, frei nach dem Motto: Dann kommen die Flamen auch nicht auf dumme Gedanken. Und, dass auf der anderen Seite die N-VA gleich alle Artikel zur Abänderung freigeben wollte, liegt auch in der Natur der Sache.
Eben diese Revisionserklärung stand am Abend also auf der Tagesordnung der Kammer. Zur Abstimmung stand eine Liste von Verfassungsartikeln, die vom zuständigen Ausschuss verabschiedet worden war. Diese Liste war vergleichsweise lang. Und die fing buchstäblich vorne an: Enthalten war zunächst Artikel 1 der Verfassung. Und der beschreibt mal eben in nur einem Satz den Kern des belgischen Staatsgefüges: " Belgien ist ein Föderalstaat, der sich aus den Gemeinschaften und den Regionen zusammensetzt." "Warum sollte man diesen Artikel ändern wollen?", haben sich da wohl viele Frankophone gedacht. Konkret: Wenn die N-VA ihren Traum vom Konföderalismus wahrmachen will, dann müsste man dafür in erster Linie diesen Artikel abändern.
Wohl auch aus diesem Grunde hatte der amtierende Premierminister Charles Michel im Vorfeld auf Twitter eine Breitseite gegen den Entwurf einer Revisionserklärung abgefeuert. "Gemeinschaftspolitischer Wahnsinn" sei das. Er werde sich aus der Regierung heraus der Freigabe dieses und anderer gemeinschaftspolitisch relevanter Artikel widersetzen.
In der Kammer wiederholte er diesen Standpunkt nochmal: "Er werde alles tun, was in seiner Macht steht, um ein gemeinschaftspolitisches Chaos nach der nächsten Wahl zu verhindern", sagte ein hörbar aufgewühlter Charles Michel:
Naja, hörte man da aber gleich sinngemäß auf flämischer Seite: "Wie stellen sie sich das vor?" Zwar ist es so, dass diese besagte Revisionserklärung im Grunde drei Mal verabschiedet wird: In der Kammer, aber auch im Senat und von der Regierung. Und wenn die Liste der Regierung kürzer ist, dann wird am Ende nur die Schnittmenge festgehalten, also die Artikel, die gleichermaßen in allen drei Revisionserklärungen stehen. Im Klartext: Die Regierung hat das Recht, die Liste einzukürzen.
Nur: Verfügt sie auch über die Legitimität? "Nein!", sagten viele flämische Fraktionen. Und sogar Koalitionspartner des Premierministers, mehr noch: die liberale Schwesterpartei der MR. "Eine geschäftsführende Regierung kann sich nicht über die Meinung des Parlaments hinwegsetzen, tobte etwa der OpenVLD-Abgeordnete Patrick Dewael: "Das tut man nicht":
Kristof Calvo von Groen ging noch einen Schritt weiter. Autorität seinen Willen durchzuboxen, das kennen wir nur von Leuten wie Putin oder Erdogan; von einem belgischen Premier erwarte man so etwas nicht:
"Populismus!", erwidert der Premier sichtlich sauer... "Von wegen Premier", sagte seinerseits Peter De Roover von der N-VA: Ab jetzt sei Michel nur noch der Vorsitzende der MR. Sie haben den Norden verloren, wendet sich De Roover an Charles Michel; und das könne man wörtlich verstehen.
"Den Norden verloren", damit sagt De Roover auch: Michel stelle sich gegen Flandern...
Artikel 1 wurde am Ende nicht freigegeben. "Immerhin", aus Sicht von Charles Michel und den frankophonen Parteien. Aufgenommen in die Liste wurde demgegenüber insbesondere Artikel 7bis. Das ist der, der geändert werden müsste, um das Klimagesetz in seiner jetzigen Form in der Verfassung zu verankern.
Möglich wäre in der kommenden Legislaturperiode auch die Schaffung eines Föderalen Wahlkreises oder die Einführung des Wahlrechts ab 16 Jahren. Die Liste ist in jedem Fall immer noch deutlich länger, als es Michel nach eigener Aussage lieb ist. Sollte er wirklich quasi im Alleingang die Liste noch weiter verkürzen, dann könnte der Streit nochmal eskalieren...
Roger Pint