Quasi über Nacht ist die bisherige Koalition in der Wallonie aus MR und CDH flügellahm geworden. Die Regierung Borsus verfügte über eine äußerst knappe Mehrheit von einem Sitz. Und diese Mehrheit ist jetzt futsch. Schuld ist Patricia Potigny. Sie war bislang, mit Verlaub, eher eine illustre Unbekannte. Oft hat man ihre Stimme nicht im Wallonischen Parlament in Namür gehört.
Jetzt waren aber mit einem Mal alle Kameras auf die Regionalabgeordnete aus Charleroi gerichtet. Potigny ist nämlich aus der MR ausgetreten, um sich der Bewegung um den MR-Dissidenten Alain Destexhe anzuschließen. Heißt: Der eine Sitz, der der Koalition bislang zur Mehrheit verholfen hat, ist weg. Und das ändert alles. "Die Mehrheit hat keine Mehrheit mehr", stellte der PS-Fraktionschef Pierre-Yves Dermagne nüchtern in der RTBF fest. Die Regierung ist also nicht mehr demokratisch legitimiert.
Konkret: Eben wegen des einen fehlenden Sitzes sind die Kräfteverhältnisse jetzt fifty-fifty. Heißt: Unter Normalumständen bekommt die Regierung Borsus ihre Vorhaben nicht mehr automatisch durchs Parlament.
Das Parlament ist aber nicht nur das Plenum. Die eigentliche gesetzgeberische Arbeit wird ja in den Ausschüssen gemacht. Und hier galt bislang: Die Koalition aus MR und CDH stellte sechs Mitglieder, die Opposition vier. In der Praxis waren das vier PS-Abgeordnete, da etwa Ecolo oder die PTB aufgrund der Zahl ihrer Sitze keinen Fraktionsstatus genießen.
Sechs zu vier also - bislang. Denn jetzt, da die Mehrheit keine Mehrheit mehr hat, muss eigentlich die Zusammenstellung der Ausschüsse geändert werden. So sieht es ein entsprechendes Sondergesetz vor. Ab sofort sollte es also so sein, dass Mehrheit und Opposition jeweils über fünf Mitglieder in den Ausschüssen verfügen.
Über das weitere Vorgehen musste sich das erweiterte Präsidium des Wallonischen Parlaments aussprechen. Für die Opposition ist die Sache klar. Die Koalition gab sich naturgemäß etwas zögerlich. "Lassen Sie mich erstmal eins feststellen", sagte der MR-Fraktionschef Jean-Paul Wahl: "Es gibt kein konstruktives Misstrauensvotum. Also ist die Regierung weiterhin im Amt."
Wachkoma
Das muss man zunächst einmal aufdröseln. Es ist so: Streng genommen kann eine Regierung auf Teilstaatenebene nicht stürzen. Im Regelfall ist es so, dass sich im Parlament erst eine alternative Mehrheit bilden muss, die dann quasi der alten Regierung indirekt das Misstrauen ausspricht, indem sie eben über eine neue Mehrheit neue Fakten schafft. Ein Musterbeispiel haben wir ja vor anderthalb Jahren gesehen: Nachdem der damalige CDH-Vorsitzende Benoît Lutgen am 19. Juni 2017 den Stecker gezogen hatte, war die alte Regierung erst gestürzt, als die neue Koalition aus MR und CDH stand.
In dieser Situation sind wir jetzt definitiv nicht. Das macht die Sache allerdings nicht wirklich klarer. Eher im Gegenteil. Jetzt droht ein Patt, ein Parlament im Wachkoma. "Jetzt hängt es von den anderen ab, wie sie sich positionieren werden", sagte der MR-Abgeordnete Olivier Destrebecq. Man könne nur an die eine oder andere Oppositionsfraktion appellieren, sich - je nach Akte - konstruktiv aufzustellen, dass sie nicht das Parlament blockieren, um es zu blockieren.
Opposition kein Steigbügelhalter
Klar werden wir uns konstruktiv aufstellen, hieß es da gleich von PS und Ecolo. Nur nicht um jeden Preis. "Wir werden jetzt nicht die Mehrheitsbeschaffer spielen für Vorhaben, gegen die wir seit Monaten ankämpfen", sagte etwa Pierre-Yves Dermagne für die PS. Das gelte etwa für die Reform der Pflegeversicherung oder die Neuausrichtung des Systems der Beschäftigungsbeihilfen, bekannt unter dem Kürzel APE.
Gleiche Töne von Ecolo. "Jetzt haben wir die Gelegenheit, schlechte Reformen aus dem Fenster zu schmeißen, wie eben die der APE", sagte Stéphane Hazée. "Stattdessen können wir ja nach neuen, alternativen Mehrheiten suchen für Texte, die unserer Ansicht nach in die richtige Richtung gehen."
Man sieht es: Die Opposition denkt nicht daran, den Steigbügelhalter zu spielen. Für die Koalition und insbesondere die MR sind das wohl bittere Momente: Eine Reihe von Projekten, die man rubbedidupp seit Mitte 2017 ausbaldowert hat, könnte jetzt doch noch auf der Ziellinie scheitern.
Ein Hintertürchen gibt es noch: Keiner will für die Blockade des Parlaments verantwortlich gemacht werden können. Wie ein Ausweg konkret aussehen könnte, das weiß allerdings auch niemand.
Roger Pint