31 Mal fuhren Züge aus Mechelen vollgestopft mit Menschen Richtung Osten. Die meisten der gut 25.000 Deportierten wurden in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau gebracht.
Welche Rolle die belgische Bahn SNCB dabei gespielt hat, ist bis heute nicht wirklich klar. Doch genau das, nämlich Klarheit über die Rolle der SNCB und ihre Verantwortlichkeit bei den Deportationen fordern jetzt Nachkommen der damaligen Opfer. Als Vorbild sehen sie die Niederlande.
Alles begann am 27. Juli 1942. Damals fingen die Deutschen an, die ehemalige Dossin-Kaserne in Mechelen zu einem Sammellager für Juden, Sinti und Roma einzurichten. Am 4. August rollte dann der erste Zug der SNCB gefüllt mit Menschen Richtung Osten, Richtung Auschwitz, Richtung Tod.
Verantwortlich dafür: ganz klar die Nazis. Sie wollten die Vernichtung der Juden in Europa erreichen. Ohne die Nazis hätte es die Transporte von Mechelen aus nicht gegeben.
Frage nur: Gibt es vielleicht noch andere Verantwortliche? Denn die Züge gehörten damals weiter der belgischen Bahn. Kann der belgischen Bahn eine Mitverantwortung für die Deportationen zugeschrieben werden?
Régine Sluszny, die damals unter anderem ihre Schwiegereltern verlor, glaubt an so eine Mitschuld. Sie sagt: „Wenn es bei der Bahn genug Personen gegeben hätte, die die Kraft dazu gehabt hätten, Nein zu sagen, dann wäre alles sicher anders gelaufen. Davon bin ich überzeugt. Deshalb glaube ich schon, dass die Bahn zumindest einen Teil der Verantwortung mitträgt.“
Die belgische Bahn hat sich nie bemüht, das dunkle Kapitel ihrer Geschichte selbst aufzuarbeiten. Historiker, die sich mit der Zeit damals beschäftigen, haben aber durchaus schon einen Blick auf das Verhalten der Bahn damals geworfen.
Laurence Schram, die an der Gedenkstätte der Dossin-Kaserne in Mechelen arbeitet, sagt: „Man hatte einen Deal geschlossen, der lautet: Die Besatzer lassen die SNCB ganz normal weiterarbeiten, unter der Voraussetzung, dass die SNCB zwischendurch mal Züge zur Verfügung stellt für militärische Transporte.“
Dass dieser Deal dann auch dazu genutzt wurde, Menschen zu transportieren, sei nicht schwer nachzuvollziehen. Der Leiter der belgischen Bahn damals sei ein Nazi-Unterstützer gewesen, so Scham. Außerdem seien die Juden nicht wirklich die Sorge Nummer eins für die SNCB gewesen. Wie auch für die meisten Belgier nicht. Für sie ging es meistens darum, so gut wie möglich über die Runden zu kommen, arbeiten zu gehen, um jeden Tag essen zu können.“
Diesen Befund bestätigt auch Nico Wouters, Historiker am Forschungszentrum Krieg und zeitgenössische Gesellschaften in Brüssel. „Die Juden“, sagt er, „und die Verschleppung der Juden waren Themen, bei denen die SNCB und der belgische Staat sich damals dazu entschieden hatten, nicht auf Konfrontation zu den Deutschen zu gehen. Das war eher ein zweitrangiges Thema. Das war eine Entscheidung, die die Belgier schnell und einfach treffen konnten, weil es ganz andere Prioritäten für sie gab.“
Anfragen an die Bahn, ihre Verantwortung für die Deportation zu klären, gab es durchaus schon.
Der Antwerpener Jude Michael Freilich, Chefredakteur der jüdischen Zeitschrift Jood Actueel, hat nach eigenen Angaben bereits mehrmals bei der SNCB um Antwort auf seine Fragen gebeten. Fragen, die lauten:„Hat die Bahn Geld für die Transporte bekommen? Haben die damaligen Verantwortlichen bei der SNCB selbst Initiativen ergriffen, um die Menschen zu deportieren? Wie vielen Leute haben freiwillige dabei mitgemacht?“
Antworten auf die Fragen hat Freilich, dessen Großvater damals deportiert worden war, bislang nicht erhalten.
Auch jetzt schweigt sich die SNCB weiter aus. Doch die Hinterbliebenen und die Historiker, die mehr Aufklärung wünschen, haben jetzt neue Hoffnung. In den Niederlanden hat sich im November die Bahn dazu bereit erklärt, Entschädigungen an die Hinterbliebene zu zahlen, deren Angehörige während des Zweiten Weltkriegs per Bahn deportiert worden waren.
Ein Antrag seitens belgischer Hinterbliebener auf mehr Aufklärung bei der SNCB liegt mittlerweile im Kabinett des föderalen Verkehrsministers François Bellot. Laut Informationen der RTBF hat er angekündigt, Vertreter der jüdischen Gemeinschaft in Belgien diesbezüglich empfangen zu wollen.
Als Ergebnis so eines Treffens wünscht sich Historikerin Schram, dass eine Historiker-Kommission eingerichtet wird, die sich mit der Frage der Verantwortung der SNCB beschäftigt. Damit das Ganze gründlich und möglichst umfassend aufgearbeitet wird.“
Kay Wagner