Das Wort Krise kommt Kattrin Jadin zwar nicht über die Lippen, aber sie beschreibt die außergewöhnliche politische Lage bei der Föderalregierung genauso, wie es auf eine Krise passt: "Wir befinden uns auf jeden Fall in einer sehr außergewöhnlichen Situation, die ich - und ich bin seit einigen Jahren schon hier in der Kammer tätig - in dieser Form noch nicht gekannt habe. Eine Minderheitsregierung hat es in dieser Form eigentlich nur 1974 einmal gegeben."
Grund für die Minderheitsregierung, die Premierminister Charles Michel zurzeit anführt, ist der Austritt der N-VA aus der Regierungskoalition. Diese war am Streit um den UN-Migrationspakt am Wochenende zerbrochen.
"Unverantwortlich" nennt Jadin das Verhalten der N-VA in Bezug auf den Migrationspakt. Zwei Jahre lang habe man Belgiens Position in der Regierung zusammen vorbereitet. Aber erst jetzt, nach den Kommunalwahlen, habe die N-VA aus dem Pakt ein Problem gemacht. Ein Problem, das zur jetzigen Situation und der Minderheitsregierung geführt hat.
Vertrauensfrage: Parlament kann Michel nicht zwingen
Premier Michel würde diese Minderheitsregierung aus Jadins MR, der OpenVLD und CD&V gerne weiterführen. Gestützt jeweils aus Mehrheiten im Parlament, die von Dossier zu Dossier verschieden sein können. "Die Frage ist jetzt einfach: Wird es noch möglich sein, die Regierung so fortzuführen, mit der entsprechenden Unterstützung seitens des Parlaments?" Das ist zurzeit eine offene Frage, die Jadin stellt. Einen richtigen Willen, eine Minderheitsregierung mitzutragen, sieht sie nicht im Parlament. Das habe die Debatte am Mittwoch in der Kammer deutlich gezeigt und letztlich auch der Antrag an die Regierung, die Vertrauensfrage zu stellen.
Bei diesem Punkt ist Jadin deutlich: Das Parlament kann Michel nicht dazu zwingen, die Vertrauensfrage zu stellen. Deshalb sagt sie: "Wenn das Parlament also die Vertrauensfrage fragt, sie aber nicht erhält, dann ist die einzige Möglichkeit, die es noch hat, einen Misstrauensantrag zu stellen. Das ist etwas, was das Parlament machen kann. Aber wie ich gesehen habe, möchten die Oppositionsparteien das nicht tun."
Niemand möchte Neuwahlen
Denn nicht nur die Regierung möchte jetzt keine Neuwahlen - auch die Opposition nicht. Aber die Minderheitsregierung will die Opposition auch nicht. Gleichzeitig auch nicht die Verantwortung dafür tragen, dass die Regierung stürzt. Denn hier hat es Tradition in Belgien: Derjenige, der verantwortlich ist für den Sturz von Regierungen, der wird vom Wähler in der Regel abgestraft. So sieht es auch Jadin. "Ich denke, niemand möchte verantwortlich für Neuwahlen sein", sagt sie.
Wie es jetzt weitergeht, ist offen. Hinter den Kulissen werde sicher kräftig verhandelt, sagt Jadin. Wer mit wem und über was genau, das weiß auch sie nicht - oder will es nicht sagen. Sie ist allerdings zuversichtlich, dass sich die Lage bis Dienstag klären wird. Dienstag ist der Tag, an dem die Frist für Michel ausläuft, auf den Antrag des Parlaments nach einer Vertrauensabstimmung einzugehen. Doch in Vermutungen, wie die Krise gelöst werden kann, will sich Jadin nicht einlassen. Sie sagt lediglich: "Die kommenden Tage werden hierfür entscheidend sein und ich denke, dass wir am Dienstag dann wirklich mehr wissen."
Kay Wagner