"Sehr geehrter Herr Premierminister...", sagt ein Ex-Premierminister. Elio Di Rupo persönlich stand zunächst am Rednerpult in der Kammer. So oft ist das in den letzten Jahren nicht vorgekommen. Auf die gestrige Bilanz des Premierministers folgte am Dienstag also quasi die "Gegenbilanz" des PS-Chefs: "Die Menschen können nicht mehr", sagt Di Rupo. Die Leute seien nach vier Jahren Politik dieser Regierung erschöpft.
Und damit begann eine zum Teil hitzige Debatte mit vielen Zwischenrufen - ein offener Schlagabtausch vor allem zwischen PS und MR. Die anderen hielten sich meist vornehm zurück. "Von wegen: Jobs, Jobs, Jobs", wetterte Di Rupo. Die Bilanz dieser Regierung laute vielmehr: "Flops, Flops, Flops". Deswegen: "Stopp, Stopp, Stopp", sagt Di Rupo. In einigen Monaten würden die Wähler ihr Urteil fällen.
Jobs, Jobs, Jobs
Das konnte Premierminister Charles Michel nicht auf sich sitzen lassen. "Jobs, Jobs, Jobs", das ist ja schließlich die Lieblingsparole des MR-Politikers. Mehrmals platzte dem Regierungschef der Kragen. "219.000 Jobs haben wir geschaffen. Die Bilanz der Vorgängerregierung: Zehntausende Jobs weniger!"
Schon am Montag hatten die übrigen Oppositionsfraktionen zum Teil beißende Kritik geübt an Charles Michel und seiner Rede zur Lage der Nation. "Michel scheint in einer Parallelwelt zu leben", sagte etwa die CDH-Fraktionsvorsitzende Catherine Fonck. Dessen Bilanz stehe doch in schrillem Kontrast zur Realität: Beispiel Stromdebakel, Beispiel Migrationspolitik. Und auch die tatsächlichen Probleme der Menschen ignoriere er. Ganz zu schweigen von der Haushaltspolitik, wie im übrigen alle Oppositionsfraktionen betonten: Das versprochene Haushaltsgleichgewicht sei grandios verfehlt worden.
Klimawandel
Die Grünen vermissten ihrerseits zuallererst jegliche soziale und vor allem umweltpolitische Vision. Kein Wort habe er von Michel zum Klimawandel gehört, beklagte Jean-Marc Nollet von Ecolo. Man spüre, dass diese Regierung nicht dazu imstande ist, diese Herausforderung anzugehen.
Zurück in die Kammer. Die Brandrede von Di Rupo war nur der Auftakt zu einer auch ansonsten munteren Debatte. Das wirkte teilweise wie eine Ausschusssitzung. Es ging hin und her. Und oft wirkte es wie die wöchentliche Fragestunde. So sorgten etwa die drohenden Stromengpässe für eine richtige Minidebatte. Wieder hagelte es Kritik von den Oppositionsbänken. "Sie sagen, Sie wollen Electrabel zur Kasse bitten", wendet sich die CDH-Fraktionsvorsitzende Catherine Fonck an den Premierminister. Michel will ja dafür sorgen, dass Atomkraftwerksbetreiber Electrabel für die Strompreiserhöhungen geradesteht, die durch den Ausfall der Kernreaktoren entstehen werden. "Nur", so fragt sich Fonck, "wird das auch wirklich passieren? Oder ist das nur eine Ankündigung, die die Wähler mit Blick auf den kommenden Sonntag besänftigen soll?"
Mehrwertsteuersenkung
Auch Jean-Marc Nollet wollte von Michel ein konkreteres Engagement hören: "Verbraucher, Unternehmen, wir alle hätten gerne einen Zeitplan". Mit einem Zeitplan konnte Charles Michel allerdings nicht dienen. Ihm fehlten schlicht und einfach im Moment noch die entsprechenden Einschätzungen der Rechtsexperten.
Die sozialistische Opposition packte ihrerseits wieder die Forderung nach einer Senkung der Mehrwertsteuer auf Strom aus. "Denn", so sagten Karine Lalieux und Karin Temmerman im Chor, "was haben gerade Sozialschwache davon, wenn sie - vielleicht - irgendwann mal Geld sehen? Sie müssen die übertriebenen Strompreise schließlich jetzt bezahlen." Strom sei schließlich Teil der Grundversorgung, die für jeden zugänglich sein müsse, sagte Lalieux.
Charles Michel sprach sich erneut gegen eine Mehrwertsteuersenkung aus. Er versprach aber, dass er dafür sorgen werde, dass in erster Linie die Bedürftigen unterstützt würden.
Roger Pint