Eklat Dienstagnacht gegen 1 Uhr morgens. Da bitten die Abgeordneten der Mehrheit im Finanzausschuss der Kammer um eine Unterbrechung der Sitzung. Kurz zuvor hatte die Opposition eine zweite Lesung zweier Gesetzes gefordert, mit denen sich die Kammerabgeordneten schon stundenlang beschäftigt hatten.
Zweite Lesung, das würde heißen: Eine Verabschiedung vor Weihnachten wäre nicht mehr möglich - in diesem Jahr noch vielleicht, aber eher unwahrscheinlich. Denn dafür müsste am Samstag wohl eine Sondersitzung der Kammer her, und zwischen Weihnachten und Neujahr müssten die Abgeordneten erneut ins Parlament gebeten werden.
Die Mehrheitspolitiker nehmen sich also Zeit zur Beratung - dann kommen sie zurück mit einer Überraschung: Zweite Lesung okay, aber dann auch für ein drittes Gesetz. Denn alle drei Gesetze formen das "Paket zum Wiederaufschwung", die "Loi de relance". Und das Paket gibt es eben nur im Paket. Einzelne Gesetze daraus loszueisen und allein zu verabschieden, das will die Mehrheit nicht. Deshalb: Alles in die zweite Lesung.
Denn bei den Gesetzen handelt es sich um hochsensible Texte. Sie zusammen sind der Kompromiss, den die flämischen Parteien im Sommerabkommen eingegangen waren. Jede Partei konnte da ein steuerrechtliches Herzensanliegen unterbringen. Die N-VA konnte eine Senkung der Unternehmenssteuer durchdrücken, die CD&V im Gegenzug die Besteuerung von Wertpapierdepots mit einer Einlage von mehr als 500.000 Euro, und die OpenVLD einen Steuerfreibetrag von 500 Euro im Monat für so genannte Gelegenheitsarbeiten.
Gerade dieses Gesetz und die Senkung der Unternehmenssteuer stoßen der Opposition so auf, dass sie Nachbesserungen wünscht. Ecolo-Abgeordnerte Georges Gilkinet begründet das wie folgt: "Bei der Arbeit an den Texten ist geschlampt worden, sie sind improvisiert. Es gibt viele Probleme mit den Texten, die uns vor Augen geführt wurden. Ich glaube, die Regierung täte besser daran, die Texte nochmal grundlegend zu überarbeiten und sich die Zeit zu nehmen, die Arbeit richtig zu machen."
Kritik an den Gesetzen war unter anderem vom Staatsrat gekommen. Die Kritik sei nicht wirklich ernst genommen worden, moniert die Opposition. Auch der wichtige Verband der Selbständigen und kleinen und mittleren Unternehmen, UCM, sei noch nicht zu den Gesetzen befragt worden. Ahmed Laaouej, PS-Fraktionsführer in der Kammer, sagt in Bezug auf das Gesetz der 500 Euro steuerfreien Nebeneinkünfte: "Wirklich keiner hat dieses Gesetz unterstützt - weder die Gewerkschaften noch die Arbeitgeber, weder die Freiwilligenverbände noch die Gewerkschaften der Selbständigen haben das Gesetz gewollt."
Die Blockade im Ausschuss bzw. die Forderung nach einer zweiten Lesung rechtfertigt Laaouj wie folgt: "Das Parlament ist nicht dazu da, die Geisel der schlampigen Arbeit der Regierung Michel und eines kleingeistigen Kuhhandels der Regierungsparteien zu sein. Ein Parlament hat etwas Besseres verdient."
Dass die Opposition in einem Ausschuss die zweite Lesung eines Gesetzes verlangen kann, ist übrigens durchaus Gang und Gäbe in der Kammer. Das gleiche passierte noch zwei Stunden später im Ausschuss für Soziale Angelegenheiten, wo ebenfalls das 500 Euro Steuerprojekt von der Opposition in die zweite Lesung geschickt wurde.
Für die Regierung Michel bedeutet die vergangene Nacht eine herbe Niederlage. Aber natürlich sind damit die Gesetze nicht vom Tisch. Alles wird nur etwas länger dauern. Vize-Premier Alexander De Croo von der OpenVLD kommentierte zu allem letztlich zuversichtlich: "Ich verstehe, dass es seitens der Opposition viele Fragen gibt. Aber dass daraus ein politisches Blockadespiel gemacht wird, wie wir es diese Nacht erleben mussten, finde ich schade. Ich glaube, dass es eine Möglichkeit geben wird, sich zu verständigen, damit die Demokratie funktioniert."
Kay Wagner