Wer schon einmal mit dem Zug z.B. zur Küste gefahren ist, der weiß es: Nach dem Stopp im Brüsseler Nordbahnhof wird es dunkel. Die nächste Haltestelle, Brüssel-Zentral, ist vollkommen unterirdisch. Erst, wenn der Südbahnhof in Sichtweite ist, sieht man wieder das Sonnenlicht.
Der Zug hat gerade die Brüsseler Nord-Süd-Verbindung durchfahren. Für belgische Verhältnisse schon ein kleines Weltwunder. Die "Jonction", wie der Frankophone sagt, verbindet den Brüsseler Nord- mit dem Südbahnhof. 3,8 Kilometer ist sie lang, davon der größte Teil unterirdisch. Der längste durchgehende Tunnel ist knapp zwei Kilometer lang.
Die Bauarbeiten haben fast ein halbes Jahrhundert gedauert: 1911 wurde mit dem Megaprojekt begonnen, dann aber kamen zwei Weltkriege. Erst 1947 wurden die Arbeiten wiederaufgenommen. 1952 wurde die Verbindung dann endlich feierlich eingeweiht werden. Bis dahin waren der heutige Nord- und der Südbahnhof Kopfbahnhöfe, vergleichbar etwa mit der Situation in Paris.
Herzschlagader des belgischen Zugnetzes
Diese Nord-Süd-Achse ist die Herzschlagader des belgischen Zugnetzes. Nahezu alle Linien, die das Land durchqueren, die also von Nord nach Süd, oder von Ost nach West fahren, sie alle passieren diesen Flaschenhals - und das alles auf sechs Gleisen. Nicht umsonst gilt die Jonction mit 1.200 Zügen pro Tag als der meistbefahrene Eisenbahntunnel der Welt.
Allein die Vorstellung, dass dieses Nadelöhr gesperrt werden soll, lässt wohl den einen oder anderen SNCB-Verantwortlichen unter Normalumständen die Gesichtsfarbe verändern. Genau das wird aber jetzt passieren, und zwar am verlängerten Wochenende zum 1. Mai. Am frühen Morgen des 29. April wird die Nord-Süd-Achse unterbrochen. "Das ist vollkommen außergewöhnlich", sagt Frédéric Sacré, Sprecher von Infrabel, in der RTBF. "Das letzte Mal haben wir das vor 30 Jahren gemacht."
Wenn man zu einem so drastischen Mittel greift, dann, weil man keine Wahl hat. Konkret: Die Trasse wird komplett modernisiert, digitalisiert um genau zu sein. 37 Signalanlagen werden ausgetauscht, ebenso wie 80 Weichen. Damit aber nicht genug: Man brauche dann noch weitere zwei Tage, um die neuen Systeme zu testen, sagt Sprecher Frédéric Sacré.
Alternativer Fahrplan
Also: Erst werden die bisherigen elektromechanischen Weichen ersetzt durch ein vollkommen digitalisiertes System. Und danach werden alle möglichen Verbindungen unter Realbedingungen getestet: 80 Lokomotiven fahren über 250 mögliche Schienenkonstellationen Probe. Erst, wenn man all diese Testfahrten erfolgreich absolviert hat, wird die Trasse wieder freigegeben. Dienstagmorgen, also am 2. Mai, soll die Nord-Süd-Verbindung wieder in Betrieb genommen werden.
Nur: Was ist mit den Tagestouristen, die eben das verlängerte Wochenende nutzen wollen, um etwa ans Meer zu fahren? Nun, die müssen in jedem Fall nicht auf den Zug verzichten. "Unser Bestreben ist es, dafür zu sorgen, dass unsere Kunden möglichst wenig von dem Ganzen mitbekommen", sagte Koen Kerckaert, Generaldirektor für den Bereich Transport bei der SNCB. "Deswegen haben wir einen Alternativplan ausgearbeitet."
Aus dem Mund von Koen Kerckaert klingt das fast schon bescheiden. Dabei ist es ein veritabler Masterplan, den man da ausarbeiten musste. Außergewöhnliche Umstände erfordern eben außergewöhnliche Maßnahmen. Die meisten Züge, die etwa von Eupen Richtung Küste fahren, sollen "um die Hauptstad herum" geleitet werden, etwa über Vilvoorde. Sie halten in keinem Brüsseler Bahnhof, sondern in vorgelagerten Haltestellen, Schaerbeek bzw. Denderleeuw.
Die Brüsseler, die aus der Haupstadt herauswollen, die bekommen in eben diesen Bahnhöfen ihre Anschlusszüge. Dabei werden Sonderzüge bzw. Shuttlebusse eingesetzt. Wer in die Stadt will, der muss auf die Stib umsteigen, die Brüsseler Nahverkehrsgesellschaft. "Aber keine Sorge", sagt Stib-Sprecherin Cindy Arents: "Wer ein Zugticket hat, der fährt kostenlos bis ins Zentrum. Die Tramlinien 3 oder 4 verbinden ja ebenfalls den Nord- und den Südbahnhof."
Investition in die Zukunft
Der Aufwand, der da an dem langen 1. Mai-Wochenende betrieben werden soll, ist schon ziemlich enorm. Das folgt aber dem Kölschen Motto: "Wat mutt, dat mutt". "Wir investieren hier in die Zukunft", sagt Koen Kerckaert von der SNCB. Mittelfristig würden durch die Digitalisierung die Sicherheit und auch die Pünktlichkeit verbessert.
Um ganz präzise zu sein: Die Nord-Süd-Trasse soll schrittweise auf das ETCS-System umgestellt werden. ETCS, das steht für European Train Control System. Bis 2022 soll das komplette belgische Eisenbahnnetz auf ETCS umgerüstet sein. "Die Kunden bekommen davon in der Regel nichts mit", sagt Frédéric Sacré von Infrabel. "Die Arbeiten verlaufen sozusagen hinter den Kulissen." Die Sperrung der Nord-Süd-Achse sei eine Ausnahme - versprochen.
Roger Pint - Bild: Thierry Roge/BELGA