"Faschistisches Regime in der Türkei": Harte Worte der Demonstranten. Zu dem Protestmarsch durch Brüssel hatten die türkische Oppositionspartei HDP sowie die belgische Kurden-Organisation NavBel aufgerufen. Sie protestieren gegen die Verhaftungs- und Säuberungswelle nach dem gescheiterten Putschversuch gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan.
"Leider bekommt man in Europa nur einen Bruchteil davon mit, was gerade in der Türkei passiert", sagt die türkische Frauenrechtlerin Zeinep Gorgu. "Aber es ist wirklich schlimm." Jeder, der auch nur die geringste Kritik an Erdogan übe, wandere ins Gefängnis: Schriftsteller, Studenten, Gewerkschafter und viele andere.
Lange hatte Europa weggesehen – auch aus Angst, der Flüchtlingsdeal mit der Türkei könnte platzen. Doch inzwischen formiert sich im Europaparlament eine Mehrheit für das Aussetzen der Beitrittsverhandlungen mit Ankara.
Die Liberalen fordern das schon seit Wochen, inzwischen kommt aber auch Unterstützung von den beiden größten Fraktionen, von Christdemokraten und Sozialisten. Schon in der kommenden Woche könnte über den Vorstoß abgestimmt werden.
Das EU-Parlament ist zwar gar nicht zuständig für die Beitrittsverhandlungen, sondern die Kommission. Der Antrag auf Aussetzung wäre rechtlich nicht bindend, aber symbolisch bedeutsam.
Schulz sagt Türkei-Besuch ab
Jüngster von vielen Vorfällen: Parlamentspräsident Martin Schulz hat eine Visite von EU-Abgeordneten in die Türkei abgesagt. Der Grund: Ankara wollte die Türkei-Berichterstatterin des Europaparlaments, Kati Piri von den niederländischen Sozialisten, nicht zum Gespräch empfangen.
Piri sieht daher ebenfalls nur eine Lösung: Abbruch der Beitrittsverhandlungen. Verhandlungen mit der Türkei machten keinen Sinn. Das Land bewege sich derzeit leider Richtung Diktatur und nicht Richtung Demokratie, bedauert Piri.
In ihrem jüngsten Türkei-Bericht hatte auch die EU-Kommission die Verhaftungswelle, die Präsident Erdogan angeordnet hat, kritisiert. Der Mangel an Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit wird ebenfalls anprangert.
Am Ende wird es aber weder das EU-Parlament noch die Kommission sein, die den Abbruch der Verhandlungen in die Wege leitet. Die Entscheidung liegt bei den Mitgliedstaaten. Und dort ist das Thema umstritten. Etliche EU-Länder fürchten, dass die Türkei die Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise aufkündigen könnte.
Verbalattacke gegen Belgien
Erhitzte Gemüter gab es bereits vor der eigentlichen Demonstration. Eingeleitet wurde der Schlagabtausch durch den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. Er warf Belgien vor, die Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK zu unterstützen. Das Land sei "ein bedeutendes Zentrum für diese Terroristen", ebenso für die Anhänger der Gülen-Bewegung, die Erdogan für den Putschversuch in der Türkei verantwortlich macht.
Premierminister Charles Michel wies die Vorwürfe auf ungewohnt scharfe Weise zurück: Die Aussagen Erdogans seien nicht nur absurd, sondern eine glatte Lüge und verleumderisch.
Alain Kniebs - Foto: Nicolas Maeterlinck/Belga