"Die russischen Vermögenswerte zu beschlagnahmen, das ist riskant", sagt Premierminister Bart De Wever auf Seite eins von La Libre Belgique. "Ohne Belgien gibt es keine Einigung", schreibt das GrenzEcho auf Seite eins.
Premierminister Bart De Wever steht auf der EU-Ebene zunehmend alleine da. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine war in Belgien russisches Vermögen im Gegenwert von mehr als 200 Milliarden Euro eingefroren worden. Bislang wurden lediglich die Renditen abgeschöpft. Viele EU-Staaten wollen das Vermögen jetzt aber schlichtweg beschlagnahmen und der Ukraine integral zur Verfügung stellen. Belgien sträubt sich dagegen. De Wever befürchtet vor allem Schadensersatzforderungen, die irgendwann auf Belgien zukommen könnten.
Menschlichkeit hat noch nie getötet, wohl aber die Untätigkeit
Viele Leitartikler beschäftigen sich derweil mit der Gaza-Krise und ihren Folgen. L'Avenir kritisiert zunächst das israelische Vorgehen gegen die Gaza-Hilfsflotte. Die israelische Marine hatte die rund 40 Schiffe gestern in internationalen Gewässern gestoppt und geentert. 400 Aktivisten wurden festgenommen, darunter auch mehrere belgische Staatsangehörige. Und es wäre zu einfach, all diese Leute pauschal als "Linksextremisten" oder "Antisemiten" zu bezeichnen, meint das Blatt.
In erster Linie handelt es sich vielmehr um Pazifisten mit einer humanitären Ader. Und die haben – man muss es betonen – gegen kein einziges Gesetz verstoßen. Sie wollten nur das tun, was die Staaten der Welt offensichtlich nicht schaffen, nämlich die Hungersnot im Gaza-Streifen bekämpfen. Wovor hatten Netanjahu und seine Minister Angst? Die Hilfsflotte stellte in keiner Weise eine Bedrohung dar. Menschlichkeit hat noch nie jemanden getötet. Im Gegensatz zur Untätigkeit und politischen Passivität angesichts des Dramas, das sich hier vor unseren Augen abspielt.
Angeheizte Radikalisierung
Großbritannien wurde derweil gestern von einem offensichtlich antisemitisch motivierten Attentat erschüttert. Bei einem Anschlag auf eine Synagoge in Manchester wurden zwei Menschen getötet und vier weitere zum Teil schwer verletzt.
"Dieses Attentat ist eins der inzwischen vielen Alarmsignale, die zeigen, wie sehr der Gaza-Konflikt auf den Westen überschlägt", warnt De Tijd in ihrem Leitartikel. Längst ist dieser gefährliche Trend sichtbar. Zuletzt auch bei uns, etwa, als das Grab des jüdischen Übervaters der frankophonen Liberalen, Jean Gol, in Lüttich geschändet wurde. Die Sicherheitsdienste stehen vor einer schwierigen Aufgabe. Ein kurzer Blick in die diversen Internetforen zeigt, wie sehr es unter der Decke brodelt. Radikalisierung ist – noch vielmehr als früher – ein Prozess, der in der realen Welt nur wenig Spuren hinterlässt. Angeheizt wird das Ganze leider noch von Politikern, wie Benjamin Netanjahu oder auch Donald Trump, die ihr politisches Kapital auf Polarisierung aufgebaut haben und nicht auf Versöhnung.
"Wir müssen fähig sein, unterschiedlicher Meinung zu sein"
"Wir brauchen jetzt ein starkes Signal", ist De Morgen überzeugt. Selbst die schlimmste Gräueltat in Gaza kann und darf einen Anschlag auf eine Synagoge nicht rechtfertigen. Wobei häufig eben diejenigen, die engagiert den Antisemitismus bekämpfen, ihrer Sache noch einen Bärendienst erweisen, etwa, indem sie Kritik an Israel gleich als Judenhass brandmarken. Das macht die Sache nicht einfacher. Dennoch: Belgien braucht dringend einen nationalen Aktionsplan gegen Antisemitismus. Und dieser Appell richtet sich auch und vor allem an die linken Parteien, die sich in dieser Frage häufig auffallend zurückhalten. Die Botschaft muss lauten: "Wer jüdische Mitbürger ins Visier nimmt, der trifft uns alle".
Le Soir plädiert seinerseits für eine gesunde und demokratische Streitkultur. Auf eine einfache Formel reduziert könnte man sagen: "Wir müssen fähig sein, unterschiedlicher Meinung zu sein". Das wird zu einer demokratischen Schlüsselkompetenz. In den USA werden inzwischen auf präsidentiellen Befehl Kritiker zum Schweigen gebracht. Aber auch bei uns wird die Meinungsfreiheit zunehmend bedroht, wenn auch glücklicherweise nicht durch den Staat an sich. In den sozialen Netzwerken allerdings herrscht längst ein raues Klima, werden die Einschüchterungsversuche immer aggressiver und brutaler. Wir müssen der Polarisierung Einhalt gebieten. Das gilt für die politisch Verantwortlichen, aber auch für jeden Einzelnen.
Sparpläne: Langzeitkranke vs. Millionäre
Einige Zeitungen beschäftigen sich auch mit den Plänen der Regierung, die bei ihren Sparanstrengungen die Langzeitkranken ins Fadenkreuz nehmen will. Zugegeben: Hier geht es um rund eine halbe Million Menschen, notiert Het Nieuwsblad in seinem Kommentar. 300.000 von ihnen sind krankgeschrieben bis zu ihrer Rente. Aus einer neuen Studie des Landesinstituts für Kranken- und Invalidenversicherung LIKIV geht hervor, dass rund die Hälfte dieser Dossiers einer neuen Prüfung wohl nicht standhalten würden. Was sagt und das? Einige Ärzte scheinen wohl ihre Patienten recht leichtfertig von der Arbeit freizustellen und die Krankenkassen schauen offensichtlich auch nicht immer so genau hin.
Das gibt einigen Regierungsparteien aber immer noch nicht das Recht alle Langzeitkranken über einen Kamm zu scheren. Das gilt für die N-VA und ganz besonders für die MR. Man kann nicht eine halbe Million Belgier einfach in einen Sack stecken und als Profiteure stigmatisieren. Die wichtigste Frage lautet aber: Was soll die Jagd auf Langzeitkranke dem Staat letztlich einbringen? Vielmehr als ein Tropfen auf den heißen Stein wird das wohl nicht sein. Der Ertrag der von Vooruit vorgeschlagenen Millionärsteuer wäre dagegen leicht zu berechnen.
Diese Idee wurde aber leider mit einem Handstreich vom Tisch gefegt, beklagt Het Belang van Limburg. Durch Premierminister Bart De Wever und vor allem durch den MR-Vorsitzenden Georges-Louis Bouchez. Vor diesem Hintergrund kann man sich fragen, ob besagte Likiv-Studie rein zufällig gerade jetzt veröffentlicht wird. Im Gegensatz zu den Langzeitkranken haben Millionäre in diesem Land offensichtlich nichts zu befürchten.
Roger Pint