"Ein neuer, erfahrener Justizminister", schreibt L'Avenir auf Seite eins. "Der Ex-Chef des Antiterrorstabs Ocam ist jetzt Minister", titelt La Libre Belgique. "Er ist ein absoluter Experte", zitiert das GrenzEcho die lobenden Worte von Premierminister Alexander De Croo. "Der richtige Mann auf dem richtigen Stuhl", so auch die Schlagzeile von De Morgen.
Paul Van Tigchelt hat gestern den Eid abgelegt als neuer Justizminister und OpenVLD-Vizepremier. Der 49-Jährige wird damit also Nachfolger von Vincent Van Quickenborne, der am Freitagabend wegen eines folgenschweren Fehlers der Brüsseler Justiz zurückgetreten war. Zuletzt war Paul Van Tigchelt stellvertretender Kabinettschef eben von Vincent Van Quickenborne. "Nachfolger von Van Quickenborne wird dessen rechte Hand", notiert denn auch Het Laatste Nieuws auf Seite eins.
"De Croo hat jetzt noch ein paar Probleme mehr", titelt aber Het Nieuwsblad. Het Belang van Limburg ist konkreter: "Bei der OpenVLD brodelt es wegen der Benennung von Paul Van Tigchelt." Einige liberale Spitzenleute fühlen sich übergangen, allen voran die frühere Parteichefin Gwendolyn Rutten. Das Fazit von Gazet van Antwerpen: "Ein neuer Justizminister, ein neuer Streit bei der OpenVLD."
Die Regierung verliert an Glaubwürdigkeit
"Für Alexander De Croo entwickelt sich seine Zeit als Premierminister mehr und mehr zu einem veritablen Kreuzweg", meint La Libre Belgique in ihrem Leitartikel. Der Rücktritt von Vincent Van Quickenborne, so ehrenvoll er auch sein mag, dürfte die Bilanz dieser Vivaldi-Koalition wohl nicht retten. Zugegeben, es ist nicht so, als hätte diese Regierung gar nichts auf die Reihe bekommen. Auf der Haben-Seite ist etwa der vergleichsweise geordnete Ausweg aus der Corona-Krise. Dem gegenüber steht aber eine viel zu lange Liste von Misserfolgen. Sozialwirtschaftlich hat sich so gut wie nichts bewegt. Die sogenannten "hoheitlichen Zuständigkeiten", also allen voran Justiz und Sicherheit, wurden allzu sehr vernachlässigt. Bestes Beispiel dafür ist die Brüsseler Staatsanwaltschaft, die man regelrecht am langen Arm verhungern ließ. Und so hat diese Regierung nach und nach auch den Rest ihrer Glaubwürdigkeit verloren.
"Und jetzt auf einmal geht es doch", kann De Morgen nur feststellen. Plötzlich, fast buchstäblich über Nacht, macht die Regierung doch Mittel frei, um die Brüsseler Justiz personell aufzustocken. Plötzlich kann die Koalition am Samstagabend wie durch ein Wunder verkünden, dass bei der Brüsseler Gerichtspolizei 50 zusätzliche Stellen geschaffen werden können. So begrüßenswert die Maßnahmen auch sein mögen, das Signal ist mehr als unglücklich. Jahrelang zogen Justizvertreter in regelmäßigen Abständen die Alarmglocke; immer ohne Erfolg. Und jetzt hat man den Eindruck, dass ein Fingerschnipsen genügt hätte. Der ebenso oft zitierte wie abgedroschene Satz scheint doch zu stimmen: "Es muss immer erst was passieren."
Friendly fire
La Dernière Heure sieht das genauso: So begrüßenswert das Maßnahmenpaket vom Samstagabend auch sein mag, so kann man nur bedauern, dass es erst einen Knall geben musste, um die Regierung zum Handeln zu bewegen. Diese Dringlichkeitsmaßnahmen hätte man sich sparen können, wenn man beizeiten ein offenes Ohr für die Sorgen und Nöte der Justiz gehabt hätte. Dieser Bereich ist zu wichtig und verdient mehr als nur Flickschusterei.
Die jetzt in aller Eile beschlossenen Maßnahmen zur Stärkung der Justiz sind im Grunde ein Schuldeingeständnis, ist De Standaard überzeugt. Und das ist umso tragischer, als die Sicherheit der Bürger doch eigentlich die wichtigste aller Prioritäten sein sollte.
Das Beste, was Premier De Croo an diesem Wochenende gemacht hat, das ist aber, Paul Van Tigchelt zum neuen Justizminister zu machen, urteilt Gazet van Antwerpen. Mit seiner Erfahrung und seinem hervorragenden Ruf ist das definitiv der richtige Mann am richtigen Ort. Allerdings hätte De Croo da mehr Taktgefühl an den Tag legen sollen. Jetzt hat er nämlich einen parteiinternen Aufstand am Hals. Vivaldi mag noch leben, die OpenVLD liegt ihrerseits im Sterben.
Ein typischer Fall von "friendly fire", also von Freundbeschuss, meint Het Belang van Limburg. Und das hatte dem Premier gerade noch gefehlt. Wenn man aus dem Rücktritt von Van Quickenborne noch politisch Kapital schlagen konnte, so sorgt dieser parteiinterne Knatsch gleich wieder für einen herben Rückschlag.
Sogar Interpol fahndete nach dem Täter
Doch sind auch im Zusammenhang mit dem eigentlichen Anschlag von vor einer Woche immer noch zu viele Fragen offen, beklagt Le Soir. Ums mal grob zusammenfassen: Nach wie vor ist es schlichtweg nicht nachvollziehbar, warum bei dem Brüsseler Attentäter nicht längst alle roten Warnleuchten angegangen waren. Im Fokus steht hier die föderale Innenministerin Annelies Verlinden. Denn auch bei der Polizei hat es ohne Zweifel Pannen gegeben.
"Hätte die Polizei im Fall des Brüsseler Attentäters mehr tun können? Die Antwort lautet: Höchstwahrscheinlich ja", glaubt auch Het Nieuwsblad. Und dann stellt sich ganz klar die Frage nach der Zukunft von Innenministerin Annelies Verlinden. Bei der CD&V hat man offensichtlich noch nicht verstanden, dass man es tunlichst vermeiden sollte, sich zu lange an seinem Stuhl festzukrallen. Der Preis dafür ist hoch, nicht nur für Verlinden selbst, sondern für die Partei insgesamt. Sollten sich die Hinweise auf Fehler bei der Polizei bestätigen, dann droht der Regierung noch eine turbulente Woche.
Het Laatste Nieuw nennt Ross und Reiter: Inzwischen weiß man, dass sogar Interpol den Brüsseler Attentäter zur Fahndung ausgeschrieben hatte. Der Mann ist als offensichtlich nicht, wie es bislang hieß, "unter dem Radar geblieben". Man hatte ihn vielmehr auf dem Schirm. Es gab durchaus Informationen über ihn, die, wenn man sie zusammengelegt hätte, durchaus explosiv waren. Annelies Verlinden muss sich also wohl auf unbequeme Fragen gefasst machen. Einziges Problem, zumindest nach derzeitigem Stand: Fällt Verlinden, dann wankt die Regierung. Und das wäre mitten in einer Terrorkrise politischer Selbstmord.
Roger Pint