"Migration: Staatsrat kippt neue Asylregeln", titelt das GrenzEcho auf Seite eins. "Asyl: Nicole de Moor unnachgiebig bei Unterbringung alleinstehender Männer", schreibt Le Soir. "De Moor hält an ihrem Kurs fest, trotz des Beschlusses des Staatsrats", so De Morgen.
Die Entscheidung von Asylstaatssekretärin Nicole de Moor, alleinstehenden männlichen Flüchtlingen vorübergehend keine Unterkunft mehr zu gewähren, verstößt laut Staatsrat also gegen das Gesetz, hält De Standaard in seinem Leitartikel fest. Weil es aber nicht genug Plätze in den Aufnahmeeinrichtungen gibt, werden Familien mit Kindern trotzdem weiter Vorrang bekommen. Früher oder später wird die Frage gestellt werden müssen, ob Belgien – trotz der bereits erfolgten Aufstockung der Kapazitäten – noch mehr leisten kann. Politisch und gesellschaftlich ist das ein Tabu, dem de Moor bislang lieber aus dem Weg geht. Damit untergräbt sie aber den belgischen Rechtsstaat, denn diese Menschen haben ein Recht auf Aufnahme, wir steuern hier auch auf einen moralischen Bankrott zu, warnt De Standaard.
Ein Mitglied der Regierung, das etwas beschließt, von dem es schon vorher weiß, dass es illegal ist, stellt eine neue Dimension dar, schreibt De Morgen. Wenn das Regierungsmitglied dann aber auch noch mitteilt, sich nicht an die Entscheidung des Staatsrats zu halten und weiterzumachen wie bisher, dann müssen in einem Rechtsstaat sämtliche Alarmglocken schrillen. Richterliche Entscheidungen nur dann zu respektieren, wenn sie einem passen, bringt den Rechtsstaat an sich ins Wanken. Viel zu schnell wird immer behauptet, dass es keine Lösungen gibt für die Aufnahmekrise, dabei stimmt das gar nicht. Wenn jede Gemeinde mitmachen würde, wäre die akute Krise schnell gelöst – ohne dass Gesellschaft und Wohlfahrtsstaat über Gebühr belastet würden. Das würde dem System auch etwas Luft verschaffen und Zeit, in der die Europäische Union ihre Flüchtlingspolitik reformieren könnte. Allerdings fehlt es dazu an politischem Willen. Stattdessen werden Flüchtlinge nicht mehr als Menschen betrachtet, die ein Mindestmaß an erster Unterbringung verdienen. Ist es wirklich schon das, was eine Mehrheit im Land will?, fragt De Morgen.
Kollision von Gesetzen mit der Realität
Natürlich muss sich auch der Staat an die Entscheidungen der Justiz halten, kommentiert Het Laatste Nieuws. Natürlich ist das ein gefährlicher Präzedenzfall. Aber der Beschluss des Staatsrats schafft keinen einzigen zusätzlichen Aufnahmeplatz. Ja, hier wird das Recht auf Asyl missachtet, aber wir sehen hier auch eine Kollision von Gesetzen mit der Realität. Ein nationaler Verteilungsplan klingt auch erst mal gut, aber die Wirklichkeit ist, dass diese Verteilung bereits stattfindet: 501 der 581 Gemeinden Belgiens beteiligen sich schon an der Unterbringung. Und wer behauptet, dass das Problem schnell gelöst wäre, wenn jede Gemeinde nur fünf Flüchtlinge mehr aufnehmen würde, der will nicht sehen, dass auf Lampedusa innerhalb von nur zwei Tagen über 7.000 neue Flüchtlinge angekommen sind, kritisiert Het Laatste Nieuws.
Was hat de Moor mit ihrem Verhalten nun eigentlich genau erreicht?, fragt Het Nieuwsblad. Sie hat die Grünen etwas auf die Palme gebracht, vielleicht hat sie sich auch kurz die Aufmerksamkeit des einen oder anderen rechten Flamen gesichert. Kaum einen Tag später besucht sie dann aber wieder ein neues Aufnahmezentrum, das sie und ihre Parteikollegen aus dem Boden gestampft haben, so viel also zu ihrer zur Schau gestellten Sturheit. Hätte sie mal lieber etwas Demut an den Tag gelegt, sie hätte doch wie früher sagen können, dass ihr Dienst zwar alles versucht, aber an störrischen Bürgermeistern und der flämischen Regionalregierung scheitert. Oder sie hätte wie so oft auf Europa verweisen können. Aber das passte anscheinend nicht in ihr politisches Kommunikationskonzept. Wehe, wenn Brüsseler Jugendliche es an Respekt vor dem Gesetz mangeln lassen! Aber wenn die Staatssekretärin das Recht mit Füßen tritt, dann ist das plötzlich eine mutige politische Entscheidung, die von der ganzen Partei bejubelt wird und an der sich niemand stößt, giftet Het Nieuwsblad.
Europa muss aufs Gaspedal treten – nicht nur bei E-Autos
Die Zeitungen gehen in ihren Leitartikeln auch auf die Rede von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zur Lage der EU ein und insbesondere auf ihre Ankündigung, Maßnahmen gegen Chinas Autobauer zu prüfen wegen einer möglichen Wettbewerbsverzerrung durch staatliche Subventionen: Für L'Avenir handelt es sich dabei vor allem um einen protektionistischen Reflex, mit dem Europa seine eigenen Schwächen und Versäumnisse kaschieren will. China ist auf dem Automarkt nicht nur wegen seiner staatlichen Subventionen so erfolgreich – sondern auch, weil es eine wirkliche, ganzheitliche Vision von der Mobilität der Zukunft hat. Weil China schon sehr früh auf die Entwicklung von Batterien gesetzt hat, anstatt einen Spagat mit Verbrennungsmotoren zu probieren. Weil China die volle strategische Kontrolle über alle Schritte und Ressourcen seiner Produktionsketten hat. Europa ist längst abgehängt, so resigniert L'Avenir.
La Libre Belgique begrüßt hingegen die Ankündigung von der Leyens. Man muss sich doch nur die Handelsbilanz anschauen: Europa importiert viel mehr als es exportiert. Und alle wissen, mit welchen gezinkten Karten China spielt: eigene Betriebe subventionieren, um den ausländischen Märkten die Preise diktieren zu können und gleichzeitig den eigenen Markt möglichst gegen Produkte von außen abschotten. Europa wird sich nur gegen China behaupten können, wenn es gelingt, die Mitgliedsstaaten dazu zu bringen, am gleichen Strang zu ziehen. Der Wille dazu wächst. Neben Autos gibt es aber noch weitere Bereiche, in denen gehandelt werden muss. Und Europa muss hier aufs Gaspedal treten, fordert La Libre Belgique.
Nichts anderes als feiger, barbarischer Terrorismus
Het Belang van Limburg greift die Brandstiftungen an vier Schulen in Charleroi auf: Hintergrund für die Angriffe auf die Schulen ist wohl Protest gegen ein Dekret der Französischen Gemeinschaft, das Schulen in der Wallonie und Brüssel zu Sexualkunde-Unterricht verpflichtet. Gewisse Kreise betrachten diesen Unterricht als sexuelle Propaganda. Fake News darüber in den sozialen Medien gießen zusätzlich Öl ins Feuer, vom angeblichen Vorführen von Pornofilmen über die Anstiftung zum Oralsex bis hin zur Ermutigung von Geschlechtsumwandlungen. Diese Falschnachrichten haben schon eine Demonstration kopftuchtragender Frauen in Brüssel ausgelöst. In unserem demokratischen Rechtsstaat sind das Recht auf freie Meinungsäußerung und das Recht zu demonstrieren heilig. Es gibt aber kein Recht auf nächtliche Brandstiftungen – das ist nichts anderes als feiger, barbarischer Terrorismus. Die Justiz muss deshalb auch alles tun, um die Täter zu ermitteln und schwer zu bestrafen, unabhängig davon, ob es sich um ultrakonservative Katholiken handelt oder um fundamentalistische Korananhänger. Sexualkunde für junge Menschen in der Schule ist wichtig und notwendig, nicht zuletzt wegen der oft irreführenden und falschen Informationen, die im Freundeskreis und im Internet verbreitet werden. Es ist nicht hinnehmbar, dass einige Idioten mit Anschlägen versuchen wollen, die Zeiten zurückzubringen, in denen Sex etwas Schlechtes war, Jungen mit ihren Händen über der Bettdecke schlafen mussten, Selbstbefriedigung zu Blindheit führte und Frauen sich Männern unterordnen mussten, wettert Het Belang van Limburg.
Boris Schmidt