"Er hat sich gejagt gefühlt: Das Coming-Out von Conner Rousseau", schreibt La Dernière Heure auf Seite eins. "Vooruit-Vorsitzender Conner Rousseau outet sich in Video, aber auch Gerüchte über grenzüberschreitendes Verhalten haben eine Rolle gespielt", titelt Gazet van Antwerpen. "'Hexenjagd' führt zu schnellerem Outing von Conner Rousseau", liest man bei De Standaard. "Flucht nach vorn ein Jahr vor den Wahlen", ist der große Aufmacher von Het Laatste Nieuws.
Der laut Umfragen populärste Politiker Flanderns ringt also mit seiner sexuellen Orientierung, kommentiert Gazet van Antwerpen. An die Öffentlichkeit gebracht hat er das gestern selbst, mit einem recht theatralischen Video. Außerdem ist nun auch öffentlich klar, dass Rousseau Gegenstand gerichtlicher Untersuchungen war beziehungsweise ist: Die eine ist eingestellt worden, das Gericht hat nichts zum Ermitteln gefunden, die andere läuft noch, aber auch hier gibt es bisher nicht den geringsten Hinweis auf Straftaten.
Das Mindeste, was man festhalten muss, ist wohl, dass das ein alles andere als normaler Tag war im Haus Rousseau. Die Frage ist nun, was das Ganze eigentlich tatsächlich war: Eine als sensibles Coming-Out getarnte gut vorbereitete Flucht nach vorne angesichts des zu erwartenden Medienrummels? Oder ist hier tatsächlich eine Hexenjagd im Gang mit übertriebenen Anklagen und viel Stimmungsmache gegen einen populären jungen Parteivorsitzenden mit auffälligem Profil?
Fest steht jedenfalls: Conner Rousseau ist unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen ist. Und je schneller sein Privatleben nicht mehr im Rampenlicht steht, desto besser: Nicht nur für uns und Conner Rousseau, sondern auch für die gesamte politische Kultur des Landes, meint Gazet van Antwerpen.
Das von Rousseau gewählte Format irritiert
In Belgien fällt man im Jahr 2023 nicht über seine sexuelle Orientierung, schreibt Het Laatste Nieuws, schließlich hatten wir zum Beispiel mit Elio Di Rupo schon einen homosexuellen Premierminister und haben mit Petra De Sutter eine Transfrau als Föderalministerin. Warum also macht das Coming-Out von Conner Rousseau trotzdem so große Schlagzeilen? Zum einen wegen des Formats, hier wurde ein professionelles Interview-Video produziert und anschließend den Medien zum Kauf angeboten. Das Coming-Out passierte also nicht wie in anderen Fällen über die Sozialen Medien oder ein Interview in einer Zeitung. In puncto Kommerzialisierung von Emotionen und Politik geht das schon sehr weit, unterstreicht Het Laatste Nieuws.
Durch sein professionelles Coming-Out-Video behält Rousseau die Zügel fest in der Hand, hält auch Het Nieuwsblad in seinem Leitartikel fest. Er geht damit aber auch jeglicher Konfrontation mit möglicherweise kritischen Journalisten aus dem Weg. Das ist zwar sein gutes Recht, aber es wirft auch Fragen auf, die so vorerst unbeantwortet bleiben, bedauert Het Nieuwsblad.
Politisch relevante Gerüchte oder Privatangelegenheit?
Niemand hat ein Problem mit der sexuellen Orientierung von Conner Rousseau, auch wir nicht, stellt Het Belang van Limburg klar. Aber in seinem Video spielt er auf politisch relevante Ereignisse an, wenn er davon spricht, dass er sich in letzter Zeit "gejagt" gefühlt hat. Schon länger machen nicht nur in der Rue de la Loi Gerüchte die Runde über Untersuchungen von unerwünschten Intimitäten mit zwei Siebzehnjährigen. In keinem der Fälle – und das ist wichtig – ist aber formell Klage eingereicht worden durch die angeblichen Opfer. Es geht vielmehr um Berichte aus zweiter Hand, die der Staatsanwaltschaft zugetragen worden sind.
Weil die Vorwürfe also bisher jeglicher überprüfbaren Grundlage entbehren, sind sie von den klassischen Medien bisher nicht aufgegriffen worden. Einige pseudojournalistische Webseiten hatten da aber keine Skrupel, wogegen Rousseau per Anwalt vorgegangen ist. Es ist also schon auch eine berechtigte Frage, inwiefern das Coming-Out ein Versuch ist, die Gerüchte zu stoppen und damit den möglichen Schaden zu begrenzen, so Het Belang van Limburg.
Belgien ist nicht Großbritannien, hier outen nicht die Medien Menschen, erinnert La Dernière Heure. Damit war die Ankündigung von Conner Rousseau einzig und allein seine eigene Entscheidung. Eine Entscheidung, die man respektieren sollte und auf die man unserer Meinung nach am besten mit Gleichgültigkeit reagieren sollte. Denn die Sexualität und das Intimleben von Conner Rousseau gehen nur Conner Rousseau und seine Partner etwas an. Das Einzige, was für die Bürger zählt, ist, was Rousseau politisch leistet, betont La Dernière Heure.
Die Schande Europas
Verschiedene Leitartikel greifen aber auch das jüngste Flüchtlingsdrama im Mittelmeer auf, bei dem wohl hunderte Menschen beim Untergang ihres Schiffs ums Leben gekommen sind. Es ist eine weitere Tragödie vor den Toren Europas, beklagt Le Soir. Und es ist die x-te, schmerzhafte Erinnerung, wie wichtig es ist, sich mit den Flüchtlingsströmen zu beschäftigen. Es zeigt auch, dass keine noch so restriktive Direktive es jemals schaffen wird, diese Menschen von ihrer gefährlichen Überfahrt abzuhalten, diese Menschen, die vor Krieg, Hunger, Diskriminierung und Verfolgung fliehen. Je mehr sich die Europäer in ihrer Festung verbarrikadieren, je mehr sie Abkommen schließen mit Ländern wie Libyen und Tunesien, um diese Männer, Frauen und Kinder von ihren Grenzen fernzuhalten, desto mehr zwingen sie die Flüchtlinge auf immer gefährlichere und tödlichere Routen, klagt Le Soir an.
Nein, Europa ist nicht verantwortlich für alles Elend auf der Welt, hebt La Libre Belgique hervor. Aber es ist sicher, dass seine Migrationspolitik zum Elend in der Welt beiträgt. Die Obsession, andere, weniger vom Schicksal begünstigte Menschen so stark wie möglich draußen zu halten, der Mangel an direkten und legalen Wegen zu Schutz, die Behinderung und Verfolgung von Helfern, die illegalen Pushbacks, die üblen Abkommen mit anderen Ländern, um Migranten gegen Bezahlung aufzuhalten – für all das muss Europa sich schämen. Und damit auch wir, wettert La Libre Belgique.
Diese jüngste Katastrophe beweist einmal mehr, dass der sogenannte Migrationspakt vor allem den Interessen Europas dient und sich viel zu wenig um die Ursachen schert, kritisiert De Morgen. Wir tun viel zu wenig, um die Menschenschmuggler zu fassen, die den Flüchtlingen und Migranten ihr letztes Geld abnehmen, bevor sie sie auf Seelenverkäufern aufs Meer schicken. Es gelingt uns auch kaum, etwas gegen die zugrundeliegenden Ursachen für die Fluchtbewegungen zu tun, gegen Kriege, Klimaextreme, Korruption, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit und so weiter. Die Migrationsströme werden nur weiter zunehmen, wenn wir den Herkunftsländern nicht unter die Arme greifen durch Konfliktmanagement, Klimaunterstützung, Wirtschaftsinvestitionen und legale Arbeitsmigration. Das schulden wir den künftigen Generationen, ist De Morgen überzeugt.
Boris Schmidt