"Moskau meldet 70 'vernichtete Terroristen'", gibt das GrenzEcho in Anführungszeichen die offizielle Kremlversion der Vorfälle in der russischen Grenzregion Belgorod wieder. "Spannungen in Belgorod nach spektakulärem Angriff", liest man in L'Avenir. "Aber wer sind denn nun diese russischen Anti-Putin-Soldaten, die Russland auf seinem eigenen Territorium angreifen?", fragt La Libre Belgique. "Neonazis und Ex-Militärs haben das gleiche Ziel: Weg mit Putin", so der große Aufmacher von De Morgen zu besagten russischen Kämpfern.
Nur die Zukunft wird zeigen können, ob das Eindringen dieser pro-ukrainischen russischen Milizen in russisches Gebiet ein Versuch war, den Kreml von innen zu destabilisieren, oder ein taktisches Manöver, um von der erwarteten ukrainischen Gegenoffensive abzulenken, kommentiert L'Avenir. Aber was es auch war, es hat dem Kremlherrscher einen Tag nach der Einnahme der Ruinen von Bachmut sicher die Partystimmung verhagelt. Ironischerweise hatten die russischen Massenmedien ausgerechnet Belgorod immer wieder als mögliches Ziel für eine Invasion der Ukrainer hochgekocht, um den Kriegswillen der eigenen Bevölkerung anzufeuern. Und auch wenn alles noch sehr nebulös ist, lässt sich am Schweigen Putins, den erhöhten Sicherheitsvorkehrungen und den beschwichtigenden Reaktionen vor Ort ablesen, dass das Regime nervös ist. Allgemeiner kann man sich auch die Frage stellen, ob das schon ein Vorgeschmack ist für das, was Russland in Zukunft erwarten könnte: eine permanente Paranoia und Angst und Milizen und Söldner à la Wagner, die auf eigene Rechnung agieren, sinniert L'Avenir.
Der Kampf ist noch nicht gewonnen
Für Gazet van Antwerpen zeigt der Belgorod-Überfall vor allem eines: Die Ukraine verfügt über ein ausgezeichnet ausgebildetes PR-Bataillon, das seine Moskauer Gegenstücke in den Schatten stellt. Denn nüchtern betrachtet war das eine extrem begrenzte Operation mit maximal 150 Soldaten ohne wirklichen militärischen Nutzen. Und dennoch hat sie es geschafft, weltweit Schlagzeilen zu machen und vom Verlust von Bachmut abzulenken. Dass die Ukraine auch einen Informationskrieg führt, ist natürlich legitim, hier geht es schließlich auch darum, sich Unterstützung für die Zukunft zu sichern. Aber auch wenn die Ukraine diesen Informationskrieg in unseren Breiten gewinnt, ist der Kampf damit noch nicht gewonnen. Denn andernorts und bei der eigenen Bevölkerung kann Russland nach wie vor punkten, warnt Gazet van Antwerpen.
Het Belang van Limburg kommt auf die mögliche Lieferung von F-16-Kampfflugzeugen an die Ukraine zurück: Zwischen einer direkten Beteiligung an einem Krieg und der Unterstützung eines Landes, das von einem aggressiven Potentaten angegriffen wird, besteht gefühlsmäßig natürlich ein Riesenunterschied. Aber politisch betrachtet wird der Balanceakt dennoch immer prekärer. Was außerdem noch immer fehlt, ist eine Debatte über die breitere Strategie der Waffenlieferungen. Wenn der Westen mit den F-16 seine letzte Trumpfkarte ausspielt, was soll dann noch danach kommen? Eine bis in alle Ewigkeit dauernde Unterstützung der Ukraine können sich die demokratischen Staaten angesichts ihrer Schuldenberge und volatiler Wähler nicht leisten. Die meisten Bürger hierzulande liegen nicht wach davon, dass die Ukrainer stellvertretend für uns Krieg führen für eine sichere und wohlhabende Zukunft des europäischen Kontinents, so Het Belang van Limburg.
Können wir uns eine Pause wirklich erlauben?
De Standaard greift in seinem Leitartikel Äußerungen von Premierminister Alexander De Croo auf gegen das sogenannte EU-Wiederherstellungsgesetz für die Natur: Für De Croo gefährden die Umweltpläne der EU-Kommission nicht nur das möglichst schnelle Erreichen der CO2-Ziele, sondern auch den Fortbestand der europäischen Wirtschaft. Damit stellt sich der Premier hinter die europäischen Christdemokraten beziehungsweise in Belgien hinter CD&V, Liberale und N-VA. Allerdings reden wir hier über eine Mischung aus legitimen Sorgen und Halbwahrheiten: Fakt ist, dass Experten schon lange warnen, dass der Verlust an Biodiversität eine genauso große Bedrohung für das Leben auf unserem Planeten darstellt wie der Klimawandel. Außerdem schaden extreme Wetterphänomene der Landwirtschaft viel mehr als Maßnahmen zur Wiederherstellung der Natur. Und wer wirklich glaubt, dass die Landwirtschaft nicht mit halb so vielen Pestiziden auskommen kann, hat wenig Vertrauen in Innovation und die Weiterentwicklung von Anbaupflanzen. Aber der Widerstand in Belgien gegen die Umweltpläne bettet sich ein in ein breiteres Muster: Europaweit nimmt die Unzufriedenheit zu, siehe BoerBurgerBeweging in den Niederlanden und die Kontroverse um das Heizungsgesetz in Deutschland. Es ist schon ein teuflisches Paradox: Einerseits ist keine Zeit zu verlieren, wenn wir weiterhin eine bewohnbare Erde haben wollen. Andererseits erfordern Veränderungen beziehungsweise ihre Akzeptanz Zeit. Aber können wir uns wirklich eine Pause erlauben, um die Zweifler wieder an Bord zu holen?, fragt De Standaard.
Schweigen ist Gold
La Libre Belgique blickt voraus auf die Wahlen nächstes Jahr und kritisiert Aussagen aus der frankophonen Politik zu möglichen Regierungskoalitionen: Jean-Marc Nollet von Ecolo und François De Smet von Défi haben ja schon eine Allianz mit der flämischen N-VA ausgeschlossen. Egal wie die Wahlen letztlich ausgehen werden: Belgien wird ein politisch betrachtet komplexes Land bleiben. Daran wird auch keine Staatsreform grundsätzlich etwas ändern. Nach den Wahlen wird wieder eine föderale Mehrheit gebildet werden müssen – beziehungsweise eine qualifizierte Mehrheit – und zwar mit zahlreichen frankophonen und flämischen Parteien. Das wird zweifelsohne eine schwierige, ideologisch aufwändige und delikate Übung werden. Aber eine, die unumgänglich ist. Die Verhandlungsführer von morgen täten also gut daran, ein für alle Mal für sich zu behalten, mit wem sie auf keinen Fall in See stechen wollen, giftet La Libre Belgique.
Boris Schmidt