"Die belgischen Energiepreise gehören plötzlich zu den günstigsten", titelt De Standaard. "Die Energierechnung ist niedriger als in den Nachbarländern", schreibt auch Het Nieuwsblad auf Seite eins. Nicht nur, dass die Stromrechnung hierzulande tatsächlich etwas niedriger ist als anderswo, der prozentuale Anteil der Energiekosten am Budget der Haushalte ist zum Teil wesentlich niedriger. Das gilt vor allem für Familien mit niedrigen Einkommen, die in Belgien insbesondere durch die geltenden Sozialtarife spürbar entlastet werden.
Auch De Morgen lässt mit einer guten Neuigkeit aufwarten: Die belgische Wirtschaft wächst in diesem Jahr mehr als erwartet, so die Schlagzeile. Für dieses Jahr wird ein Wachstum von 1,2 Prozent prognostiziert. Das ist mehr als in Ländern wie Deutschland oder Frankreich.
"Der Belgier verdient brutto 3.881 Euro", so derweil die Titelstory von Het Laatste Nieuws. Im Durchschnitt sind die Löhne um 3,5 Prozent gestiegen.
"Deklinismus"
Drei gute Neuigkeiten also, die auf eine doch gesunde wirtschaftliche Lage hindeuten mögen. Und doch sind viele Menschen unzufrieden und haben – im Gegenteil – den Eindruck, dass sich die eigene Situation und die des Landes nur verschlechtern. Der Kontrast könnte größer nicht sein, analysiert denn auch De Morgen. Insgesamt ist Belgien vergleichsweise gut durch die Krisen gekommen. Demgegenüber sind viele Menschen wütend und verzweifelt. "Deklinismus" nennen Soziologen das. Als Deklinismus bezeichnet man die Überzeugung, dass eine Gesellschaft zum Niedergang neigt. Untergangsdenken, könnte man sagen. Dieses Gefühl ist offensichtlich so stark, dass so mancher dabei sogar objektive Faktoren über den realen Wohlstand ausblendet. Klar: Es ist nicht alles rosig. Das belgische Haushaltsdefizit etwa ist fast das höchste in der ganzen EU. Dafür gibt es aber Gründe. Das Haushaltsloch ist schließlich eine Folge der entschlossenen Maßnahmen der Regierung zur Erhaltung der Kaufkraft der Bürger. Und das ist erwiesenermaßen auch gelungen. Umso verrückter erscheint es, dass so viele Bürger mit ihren Politikern abrechnen wollen.
L'Echo malt seinerseits ein nuancierteres Bild der allgemeinen wirtschaftlichen Lage. Klar: Ökonomisch betrachtet hat Belgien eine erstaunliche Widerstandskraft an den Tag gelegt. Ja: Das belgische Wachstum liegt über dem Durchschnitt der Eurozone. Das bedeutet aber längst nicht, dass alle Probleme jetzt hinter uns lägen. Laut Erhebungen der Mittelstandsvereinigungen schwächelt etwa die Zahl der Unternehmensgründungen. Außerdem haben die Indexanpassungen der Gehälter dazu geführt, dass die Lohnkluft im Vergleich zu den Nachbarländern wieder größer wird. Und dann warten da noch die Kosten der Vergreisung der Bevölkerung beziehungsweise für die Energiewende. Mittel- bis langfristig weist das Land also durchaus auch Schwachpunkte im Vergleich zu den Nachbarländern auf.
This is not "The End"
"Werden sich Politiker finden, die den Bürgern reinen Wein einschenken?", fragt sich derweil De Tijd in ihrem Leitartikel. Die Parlamentswahl von Juni nächsten Jahres wirft schon ihre Schatten voraus. Und im Moment mag man den Eindruck haben, dass die meisten Parteien dem Bürger wieder das Blaue vom Himmel versprechen wollen. Dabei machen all die großen Herausforderungen der heutigen Zeit den Handlungsspielraum für künftige Regierungen doch ziemlich klein. Im Grunde ist es das, was man den Menschen darlegen muss, nämlich dass wir am Ende einer Ära stehen. Ab jetzt fließt wieder mehr Geld in die Staatsschuld, in die Landesverteidigung und natürlich auch in die Energiewende. Und all das vor dem Hintergrund der immer prekärer werdenden Rentenfinanzierung und der astronomischen Staatsschuld des Landes. Die Parteien müssen den Wählern die Wahrheit sagen. Ansonsten ist die Gefahr groß, dass wir von Milliarden träumend in den budgetären Abgrund schlafwandeln.
Auch De Standaard beschäftigt sich mit dem anstehenden Wahlkampf. Gerade erst hat N-VA-Chef Bart De Wever angekündigt, dass er bereit sei, eine föderale Notregierung zu leiten, in Erwartung einer grundlegenden Neuordnung des Landes. Grundvoraussetzung dafür ist allerdings, dass die N-VA tatsächlich wieder zur stärksten politischen Kraft in Flandern wird. Der Einsatz könnte also nicht höher sein. Eine andere Frage ist, ob derlei Überlegungen wirklich die beste Antwort auf die Ängste und Sorgen der Bürger sind. In der Politik ist kein Gefecht wirklich das letzte. Die beste Botschaft an die Wähler ist vielleicht das Versprechen, dass der Titel des nächsten Kapitels nicht "The End" lautet.
Bart De Wever: Sand im Getriebe
La Libre Belgique vermisst bei alledem eine passende Antwort der Frankophonen. Bart De Wever schwadroniert mal wieder über den "Bankrott Belgiens" und singt wieder den altbekannten Refrain über den Konföderalismus. Doch darf man bei alledem nicht außer Acht lassen, dass die Flamen auch durchaus reale Probleme aufs Tapet bringen. Man kann etwa nicht leugnen, dass der innerbelgische Dialog Sand im Getriebe hat. Bester Beweis waren die Konzertierungsausschüsse während der Corona-Krise. Auch in der Beschäftigungspolitik müssen sich die Regionen dringend aufeinander abstimmen. Über all diese Probleme ist auf frankophoner Seite nicht viel Konstruktives zu hören. Damit rollen die Parteien im südlichen Landesteil Bart De Wever eigentlich nur den roten Teppich aus.
Einige Zeitungen analysieren schließlich auch das Wahlergebnis in der Türkei. "Erdogan hat noch nicht sein letztes Wort gesprochen", kann Le Soir nur feststellen. Und für Außenstehende ist das kaum nachvollziehbar, hakt Het Nieuwsblad ein. Das Rezept von Recep Tayyip Erdogan ist denkbar einfach: Es ist ein Cocktail aus Ultranationalismus, dem Kampf um türkische Identität und dem Schutz der islamischen Normen und Werte. Das hat sich Erdogan von seinem großen Vorbild abgeguckt, nämlich dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Insofern wäre die wahrscheinliche Wiederwahl von Erdogan auch für Europa und die Welt ein schlechtes Signal.
Roger Pint