"Beschämender Empfang für Flüchtlinge aus der Ukraine", titelt La Dernière Heure. "Flandern baut 15 Auffanglager mit 10.000 Betten", schreibt Het Nieuwsblad auf Seite eins. "Wir schaffen das", zitiert in deutscher Sprache Het Laatste Nieuws in ihrer Schlagzeile die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Die zunehmende Zahl der Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine auch nach Belgien fliehen, beschäftigt die Zeitungen auch in ihren Leitartikeln.
La Dernière Heure schämt sich: Die Bilder sind schockierend. Nicht nur die Bilder aus den Kriegsgebieten in der Ukraine, sondern auch die Bilder der Flüchtlinge – bei uns in Belgien. Niemand scheint sich vorbereitet zu haben. Dabei dauert der Krieg bereits mehr als zwei Wochen, und jeder wusste, dass Flüchtlinge auch zu uns kommen würden. Jetzt müssen ganze Familien, oft auch nur Frauen und Kinder allein, wie Obdachlose die Nächte auf der Straße verbringen. Diese Flüchtlinge, die dem Gräuel des Kriegs entkommen konnten, haben Besseres verdient. Wir hätten sie mit offenen Armen empfangen müssen. Nicht wie Hunde, schimpft La Dernière Heure.
Auch La Libre Belgique beobachtet: Wir werden gerade wieder einmal Zeugen der Unfähigkeit unseres Landes, mit Notsituationen schnell gut umzugehen. Das hat nichts mit fehlender Solidarität zu tun: Die ist vorhanden. Es ist vielmehr die Bereitstellung der nötigen Logistik, die mangelhaft funktioniert. Das ist zurückzuführen auf die komplizierten politischen und verwaltungstechnischen Strukturen in unserem Land und den zahlreichen unterschiedlichen Zuständigkeiten. Das macht die Kommunikation oft schwerfällig, und dadurch letztlich die Hilfe so langsam, beklagt La Libre Belgique.
Solidarität mit Haltbarkeitsdatum
Het Belang Van Limburg warnt: Wir müssen achtgeben, dass wir die Aufgabe jetzt nicht unterschätzen, die Flüchtlinge bei uns aufzunehmen. Die Euphorie und große Bereitschaft gerade bei der Bevölkerung, Platz für die Flüchtlinge zu schaffen, darf nicht in Frust umschlagen. Die Hashtags "Platz frei" dürfen sich nicht wandeln in Hashtags "Ausgebucht". Die jetzt geforderte und nötige Solidarität mit den Flüchtlingen ist kein Sonntagsspaziergang im Park. Sondern vielmehr ein schier endlos erscheinender Marathon, gibt Het Belang Van Limburg zu bedenken.
De Standaard sieht das ähnlich und erinnert: Solidarität hat ein Haltbarkeitsdatum, und die große Solidarität, die viele Bürger jetzt mit den Flüchtlingen aus der Ukraine bekunden, wird da keine Ausnahme sein. Deshalb ist es wichtig, dass der Staat die Bürger, die Flüchtlinge bei sich aufnehmen wollen, jetzt tatkräftig unterstützt. Die Bürger dürfen in ihrer Solidarität nicht allein gelassen werden. Denn natürlich werden nach den ersten Wochen des Zusammenlebens mit den Flüchtlingen auch Probleme auftreten. Dann muss es Hilfsmöglichkeiten geben. Auf diese Weise könnte es gelingen, dass das Haltbarkeitsdatum der aktuellen Solidarität mit den Flüchtlingen aus der Ukraine so weit wie möglich in die Zukunft rückt, überlegt De Standaard.
EU-Gipfeltreffen - erste Risse in der Einheit
Zum Gipfeltreffen der EU-Staats- und Regierungschefs in Versailles notiert die Wirtschaftszeitung L'Echo: Gestern Abend haben die 27 erneut ihre Einheit beschworen bei der Unterstützung der Ukraine. Dabei gibt es in dieser Einheit bereits wieder erste Risse. So wird zum Beispiel ein schneller EU-Beitritt der Ukraine von vielen osteuropäischen Staaten zwar gefordert, von nordeuropäischen Staaten aber ausgebremst. Doch diese Uneinigkeit sollte nicht wieder um sich greifen. Die EU muss jetzt die Software wechseln. Sie muss sich als politische Macht etablieren und sich die Mittel geben, diese Macht auch auszuüben. Als geeinter Block, rät L'Echo.
Das GrenzEcho stellt ebenfalls fest: Keine zwei Wochen nach ihrem Zustandekommen bröckelt die viel beschworene Front. In Versailles steht die EU vor der nicht gerade einfachen Frage, wie groß das B ausfallen soll, das auf das A folgen soll, das man nun einmal ausgesprochen hat. Denn mittlerweile stellt man fest, dass die Sanktionen, mit denen man Putin einbremsen wollte, einen selbst mindestens so stark treffen, wie den Kremlchef. Während die Preise an den Zapfsäulen längst jenseits von Gut und Böse sind, steigt die Inflation, geraten Arbeitsplätze in Gefahr. Die Stimmung in der Bevölkerung gegenüber ihren Regierungen droht zu kippen, bemerkt das GrenzEcho.
Ukraine-Konzertierungsausschüsse mit Sofortmaßnahmen
In diesem Zusammenhang meint Le Soir: Es wäre vielleicht gut, die Ukraine-Krise mit ihren Auswirkungen so zu behandeln, wie die Covid-Krise. Auch bei Covid wusste niemand, wie die Zukunft aussehen wird. Regelmäßig tagten also Konzertierungsausschüsse, um je nach Situation reagieren zu können. Ein ähnliches Vorgehen wäre auch jetzt ratsam. Bei solchen Ukraine-Konzertierungsausschüssen könnte man zum Beispiel auch Sofortmaßnahmen beschließen, um die hohen Preise an den Tankstellen schnell zu senken. Das aktuelle Warten damit steigert nur unnötig Angst und Unzufriedenheit bei den Bürgern, findet Le Soir.
Kay Wagner