"Die Uneinigkeit", titelt Le Soir. Gemeint ist damit die Vivaldi-Koalition. Die hat nämlich gestern noch ein paar neue Risse bekommen. Auf der einen Seite läuft die liberale MR nach wie vor Sturm gegen den Atomausstieg. Das ging dann so weit, dass man gestern eine Einigung über den Atomausstieg ankündigte, was aber nur ein paar Minuten später von MR-Chef Georges-Louis Bouchez dementiert wurde. Und auf der anderen Seite ist man sich weiter uneins bei den Corona-Maßnahmen: Premierminister Alexander De Croo musste sich gestern auch Kritik aus der eigenen Mehrheit anhören, vor allem von Ecolo und der CD&V, die beide sogar forderten, die Schließung der Kultur rückgängig zu machen.
Apropos: Der Kultursektor will sich diesmal nicht beugen. "Der Widerstand in der Kulturwelt wächst", so die Schlagzeile von Het Laatste Nieuws. "Es riecht nach zivilem Ungehorsam", schreibt sinngemäß L'Avenir auf Seite eins. "Die Kultur rebelliert", titelt sogar La Dernière Heure. Einige Kulturschaffende haben angekündigt, dass sie am Sonntag nicht schließen werden.
Ein Zeichen von kultureller Ignoranz
Einige Blätter kommen auch heute noch einmal zurück auf die Beschlüsse des Konzertierungsausschusses. Die Sitzung vom vergangenen Mittwoch hinterlässt ein unschönes Gefühl, meint etwa De Morgen in seinem Leitartikel. Man kann es dem Horeca-Sektor ja nicht vorwerfen, dass er über eine gut geölte Lobby-Maschine verfügt. Jedenfalls hat man es geschafft, dass der Konzertierungsausschuss die Kneipen und Restaurants diesmal nicht angetastet hat. Doch ist die angekündigte Schließung des Kultursektors ein Fehler. Von den Menschen wird erwartet, dass sie über die Festtage Vorsicht walten lassen. Der einzige Ort, wo sie sich hätten entspannen können - und das in einem vergleichsweise sicheren Rahmen -, wären aber die Kulturstätten gewesen: Kinos, Theatersäle, etc. Und genau diese Orte werden jetzt geschlossen. Das kann sich als kontraproduktiv erweisen.
"Die Kultur jetzt zu opfern, das zeugt von kultureller Ignoranz", kritisiert das GrenzEcho. Das Schlimmste in dieser Situation ist allerdings der offenkundige und wohl kaum zu kittende Bruch zwischen den wissenschaftlichen Beratern und der Regierung. Warum muss man in der Weihnachtszeit die Kultur ein weiteres Mal abwürgen, wo doch die Wissenschaftler das gar nicht gefordert hatten? All das zeugt von einem tiefen kulturellen Unverständnis. Muss man jetzt auch noch die Kulturschaffenden auf die Straße treiben?
Atomausstieg – Die Hängepartie geht weiter
Das zweite große Thema ist der Atomausstieg. Besagtes Abkommen, das die Regierung gestern Morgen präsentierte, erwies sich letztlich als ein weiterer Aufschub: "Die Zukunft der Kernenergie bleibt noch bis Mitte März in der Schwebe", schreibt denn auch L'Echo auf Seite eins.
"2025 soll also mit der Kernkraft Schluss sein... Ist das amtlich? Nee, ehrlich gesagt noch nicht ganz"... "Das ist doch kein Abkommen, so etwas!", giftet L'Avenir. Bis März wird diese Hängepartie also noch weitergehen. Eigentlich sind wir immer noch keinen Schritt weitergekommen.
Gazet van Antwerpen sieht das ähnlich. "Diese Regierung ist im Blindflug", meint das Blatt Gazet van Antwerpen. Es gebe ein Abkommen über den Atomausstieg 2025, hieß es da zunächst. Nur, um dann festzustellen, dass man eigentlich immer noch nicht weiter ist als 2003, als der Atomausstieg im Parlament verabschiedet wurde. Denn immer noch hängt die Abschaltung der Reaktoren von der Frage ab, ob die Versorgungssicherheit denn auch wirklich gewährleistet werden kann. Das alles, weil die flämische Regierung die Genehmigung für das Gaskraftwerk in Vilvoorde verweigert hat. Stellt sich die Frage: Wieso hat man eigentlich mit Kapazitäten geplant, von denen man nicht mal wusste, ob sie überhaupt genehmigt würden?
Hier steht Premierminister Alexander De Croo selbst in der Schusslinie, analysiert De Standaard. Er steht auf der Seite seiner grünen Energieministerin Tinne Van der Straeten. Dafür wird er vor allem von der oppositionellen N-VA unter Beschuss genommen. Fast noch schärfer als die Opposition schießt aber der MR-Vorsitzende Georges-Louis Bouchez. Das ist eine surrealistische Situation. Und die wird bis zum 18. März andauern. Doch kommt Alexander De Croo mit jedem Tag näher an seine Schmerzgrenze...
Ein Kompass als Weihnachtsgeschenk für die Regierung?
Dieses Durcheinander der letzten Tage bereitet einigen Zeitungen regelrecht Bauchschmerzen.
Die Regierung ist im Begriff, die Kontrolle zu verlieren, warnt De Tijd. Wegen der jüngsten Entscheidungen des Konzertierungsausschusses steht die Equipe von allen Seiten unter Beschuss. Noch tödlicher für die Akzeptanz ist der Bruch mit den wissenschaftlichen Beratern. Dann noch der Eiertanz um das sogenannte Abkommen zum Atomausstieg... Von effizienter Politik, die den Menschen eigentlich Lösungen anbieten sollten, davon sind wir hier inzwischen weit entfernt.
Durcheinander in Sachen Atomausstieg, Proteststurm gegen die Corona-Maßnahmen, Bruch mit den Gesundheitsexperten - und der Bürger versteht gar nichts mehr... Was für ein trauriges Schauspiel, beklagt sinngemäß Le Soir. Diese Pandemie macht uns offensichtlich buchstäblich verrückt. Natürlich ist das alles nicht einfach zu managen. Die Politik muss den Menschen aber in diesen schwierigen und angsteinflößenden Zeiten Sicherheit bieten. Deswegen der Aufruf: "Reißt Euch zusammen!".
Es herrscht ein Klima von Chaos und Willkür, meint auch La Libre Belgique. Die Politik muss sich besinnen. Vom Weihnachtsmann sollten wir uns eigentlich einen Kompass wünschen, den man unseren politisch Verantwortlichen unter den Baum legen müsste...
In diesem Land hat man verlernt, Entscheidungen zu treffen, kann L'Echo nur feststellen. In der Corona-Krise verzichtet man auf die anerkannten Fähigkeiten der Gesundheitsexperten "made in Belgium". Der Atomausstieg ist inzwischen zum schlechten Witz geraten. Und auch mit Blick auf die anderen langfristigen Herausforderungen wie dem Kampf gegen den Klimawandel sucht man vergeblich nach einer klaren Vision. Vorsicht, geehrte Damen und Herren Politiker! Wenn das so weitergeht, dann wird das Ende der Geschichte so gar nichts mehr mit einem Weihnachtsmärchen zu tun haben...
Eine Messerspitze Optimismus für 2022
Apropos Weihnachten: Einige Blätter versuchen dann doch, auch eine etwas besinnlichere Note anzustimmen. Het Belang van Limburg etwa empfiehlt, sich auch mal eine andere Brille aufzusetzen. Wenn wir uns ein Jahr zurückversetzen, dann können wir doch feststellen, dass sich was verbessert hat. Und vergleicht man unser Leben hier mit dem Schicksal der Flüchtlinge an der polnisch-weißrussischen Grenze, dann relativiert das doch Einiges. Klingt das jetzt naiv und pathetisch? Dann ist das ebenso. Aber manchmal sollte man auch einfach nur mal ein bisschen Optimismus an den Tag legen.
Het Nieuwsblad sieht das ähnlich: Wir wünschen allen, vor allem aber den Politikern dieses Landes, unter dem Weihnachtsbaum mal ein bisschen Besinnung. Klar, das Jahr endet in Zwietracht. Das muss nächstes Jahr besser werden. Aber vorher sollten wir uns alle ein geselliges und zugleich sicheres Weihnachtsfest gönnen.
In diesem Sinne wünscht Ihnen auch das ganze Team des BRF-Studios Brüssel frohe und friedliche Weihnachten!
Roger Pint