"Atomausstieg scheint näher als je zuvor" titelt De Morgen. "Engie zerstört Träume einer Laufzeitverlängerung" steht auf der Titelseite der flämischen Wirtschaftszeitung De Tijd. Beide Zeitungen kommen auf den Brief von Engie-Electrabel an Premier De Croo zurück. Darin hatte der Betreiber der belgischen Kernkraftwerke geschrieben, dass es schon aus rein zeitlichen, technischen und juristischen Gründen keine andere Möglichkeit gibt, als 2025 alle Kernreaktoren abzuschalten.
Langfristiges Denken fehlt
Dazu schreibt De Morgen: In der Debatte über die Kernkraftwerke befinden wir uns also an dem Punkt, an dem der Arzt nur noch den Tod des Patienten feststellen kann. Die eifrigsten Verfechter der Kernenergie - MR und N-VA - behaupten jedoch, dass nichts unmöglich ist und dass die Gesetze und Einwände, die eine längere Laufzeit der neuesten Anlagen verhindern, aufgehoben werden sollten. Das sieht langsam nach therapeutischer Sturheit aus. Das nützt niemandem etwas. Vielleicht ist es jetzt klüger, den Ausstieg aus der Kernenergie schnell zu vollziehen und alle Mittel zu nutzen, um eine reibungslose, sichere und erschwingliche Energieversorgung in der postnuklearen Ära zu gewährleisten. Der Ausstieg aus der Kernenergie ist nicht gerade ein neues Thema. Aber in den letzten 20 Jahren wurde nie etwas Entscheidendes unternommen. Einmal mehr zeigt sich, dass es der Politik an langfristigem Denken mangelt. Für viele Bürgerinnen und Bürger, die ständig darauf hingewiesen werden, dass sie sparsam und bewusst mit Klima und Energie umgehen sollen, hinterlässt dieses Fest der verpassten Chancen einen bitteren Beigeschmack. Leider müssen wir hinzufügen: wieder einmal.
Alea iacta est. Die Würfel sind gefallen, schreibt dazu dann auch Het Laatste Nieuws. Engie Electrabel hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Zeit abgelaufen ist. Es wurde gewarnt, die Alarmglocken wurden geläutet, auf die tickende Uhr wurde hingewiesen. Engie Electrabel hat unsere politischen Entscheidungsträger nicht mit dem Rücken zur Wand gedrängt. Da haben sie schon selbst für gesorgt.
De Standaard schreibt zum selben Thema: Es ist kein Wunder, dass der französische Energiekonzern Engie die beiden letzten Kernkraftwerke in unserem Land nicht weiter betreiben will. Es liegt ja auf der Hand, dass ein Unternehmen eher daran interessiert ist, neue Gaskraftwerke zu betreiben, für die es Subventionen erhält, als alte Kernkraftwerke zu betreiben, für die es Monopolsteuern zahlen muss.
Traum der Freiheit geplatzt
Het Nieuwsblad kommentiert die Ergebnisse des neuesten Corona-Motivationsbarometers. Einer von drei Geimpften hat Zweifel an der Auffrischungsimpfung. Das Misstrauen gegenüber einer Boosterimpfung für kleine Kinder ist noch größer. Die Zweifel an der Boosterimpfung kommen nicht aus heiterem Himmel, schreibt die Zeitung. Vor mehr als sechs Monaten lautete der Schlachtruf, dass die Impfung den Sommer der Freiheit einläuten würde. Die Experten haben sich dieser Euphorie nie angeschlossen. Maßnahmen wie Maskenpflicht oder Telearbeit müssten mit der Impfung einhergehen. Diese Botschaft ist im Siegeszug der Impfkampagne untergegangen. Der Traum von der Freiheit ist geplatzt. Die drei Konzertierungsaussschüsse innerhalb weniger Wochen haben mit ihren wankelmütigen Entscheidungen dem Vertrauen in die Politik den Todesstoß versetzt.
Ausbeutung ist keine Innovation
Die flämische Wirtschaftszeitung De Tijd beschäftigt sich mit dem gestrigen Urteil des Brüsseler Arbeitsgerichts, dass die Kuriere des Essenslieferdienstes Deliveroo keine Arbeitnehmer sind, sondern Selbstständige. Die Zeitung fragt sich: Hält die Sharing Economy der Prüfung durch das belgische Arbeitsrecht stand? Die Frage ist schon seit einiger Zeit aktuell, aber jetzt wird sie vor den Brüsseler Gerichten verhandelt. Nachdem das Berufungsgericht im vergangenen Monat den Taxidienst Uber verboten hatte, entschied das Arbeitsgericht gestern, dass der Essenslieferdienst Deliveroo zu Recht einige seiner Kuriere als Selbstständige beschäftigt. Die beiden Urteile gehen in unterschiedliche Richtungen. Sie sind nicht die einzigen Anzeichen dafür, dass wir uns mit dieser neuen Wirtschaftsform noch schwer tun. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wann der Nutzen für die Kunden in Ausbeutung übergeht. Die Untergrabung der Sozialgesetzgebung ist keine Innovation, sondern ein Verbrechen. Eine gute Regelung für die Sharing Economy sollte nicht unmöglich sein. Lassen wir aber nicht zu, dass die sozialen Mindeststandards untergraben werden.
Scholz muss Sicherheit vermitteln
Le Soir kommentiert den gestrigen Startschuss der neuen Ampelregierung in Deutschland. Zum ersten Mal soll eine Dreier-Koalition die Geschicke dieses wirtschaftlichen, sozialen und politischen Schwergewichts steuern. Der neue Bundeskanzler Olaf Scholz und sein mit Frauen und Männern paritätisch besetztes Kabinett, bei dem Schlüsselressorts wie Außen-, Innen- und Verteidigungsministerium mit Frauen besetzt werden, kündigen ein neues Kapitel in der Geschichte des Landes an. In einem instabilen europäischen Kontext müssen Scholz und sein Team den anderen EU-Länder Sicherheit vermitteln, indem es die strategische Souveränität der EU stärkt und die gemeinsamen europäischen Interessen verteidigt.
Volker Krings