"Drittes Mal, strengstes Mal? – Neuer Ruf nach einem Konzertierungsausschuss ", titelt De Standaard. "Strengere Maßnahmen in Sicht", so die Schlagzeile von Het Nieuwsblad und Het Belang van Limburg. "Diesmal sind das Unterrichtswesen und Veranstaltungen im Fadenkreuz", schreiben De Morgen und De Tijd auf Seite eins.
Es liegt ein neuer Konzertierungsausschuss in der Luft. Und das weniger als eine Woche nach der letzten Sitzung. Es war der flämische Ministerpräsident Jan Jambon, der gestern einen neuen Konzertierungsausschuss gefordert hatte. Er reagiert damit auf die katastrophalen Corona-Zahlen in seiner Region. Der N-VA-Politiker hatte dafür plädiert, Freizeitveranstaltungen in Innenräumen zu verbieten; das erstmal bis zum 15. Dezember.
Es geschehen dann doch manchmal noch Zeichen und Wunder, meint Gazet van Antwerpen sinngemäß in ihrem Leitartikel. Ausgerechnet Jan Jambon, der sonst immer zu den ersten gehörte, die für Lockerungen eintraten, ausgerechnet dieser Jan Jambon prescht plötzlich vor und fordert ein Verbot von Freizeitveranstaltungen in Innenräumen. Da muss man mal eben innehalten. Die N-VA? Die Partei, die bis vor kurzem noch nicht im Ansatz die Notwendigkeit neuer Maßnahmen einsehen wollte? Ist man bei den Nationalisten plötzlich zur Einsicht gelangt? Oder will man nur den flämischen N-VA-Unterrichtsminister Ben Weyts aus der Schusslinie holen? Der hatte sich ja in den letzten Tagen durch eine regelrechte Realitätsverweigerung ausgezeichnet. Wie dem auch sei: Wir brauchen jetzt vor allem politischen Mut.
Prioritäten gesetzt oder Flucht nach vorn?
Jan Jambon hat eine lupenreine Mörderkurve hingelegt, findet Het Laatste Nieuws. Der Mann, für den ein leeres Glas immer strukturell halbvoll ist, der Mann, der ein brennendes Haus als einen Schwelbrand verkauft, dieser Jan Jambon fordert jetzt noch vor den Experten neue, strengere Maßnahmen. Gut, er ist nicht der erste, der in dieser Pandemie seine Meinung ändern muss. Aber dennoch: Diese Kehrtwende erfordert Mut. Denn: Viel Unterstützung aus den eigenen Reihen hat Jambon dafür nicht bekommen. Der Ministerpräsident hat das gemacht, was man von einem Ministerpräsidenten erwartet: Prioritäten setzen, um die Krankenhäuser zu entlasten. Wobei: Es kann auch sein, dass Jambon hier lediglich die Flucht nach vorn antritt: Indem man den Eventsektor opfern will, versucht man womöglich, andere Sektoren und die dafür zuständigen Minister zu schützen.
Het Nieuwsblad macht eine ähnliche Analyse. Jambon schlägt ein Flächenbombardement vor: Der Event- und der Kultursektor sollen komplett dichtgemacht werden. Dabei trifft man alles, aber nicht das, was man treffen muss. Denn: Das Virus wütet ganz anderswo, in den Schulen nämlich. Das Unterrichtswesen ist aber leider zu einem politischen Fetisch geworden. Die Schulen offenhalten zu wollen, das ist bestimmt ein nobles Ziel. Doch ist das zum Krampf geworden. Wir brauchen kein blindes Flächenbombardement, sondern gezielte Präzisionsschläge, und zwar dort, wo das Virus ist: eben in den Schulen. Und vielleicht ist es schon zu spät. Weil die Feuerwehr nicht ausrücken durfte, um ein heiliges Haus zu löschen, das längst in Brand stand.
Ein "Käsehobel-Lockdown"
Was wir hier sehen, das ist ein Käsehobel-Lockdown, beklagt De Morgen. Die Politik hat in den letzten Wochen allzu vorsichtig agiert. Man wollte möglichst schmerzlose Maßnahmen erlassen. Und dann, beim nächsten Mal, wieder ein bisschen mehr, ein bisschen strenger. Bis man in einem faktischen Lockdown landet, ohne dass man den beim Namen nennen darf. Diese Strategie hat Nachteile: Sie dauert zu lange. Und sie sorgt für Rechtsunsicherheit. Denn: Keiner kann sich mehr sicher fühlen: Wenn ein Sektor heute noch verschont bleibt, kann das in fünf Tagen, beim nächsten Konzertierungsausschuss, doch schon wieder anders aussehen. Und letztlich läuft man den Tatsachen hinterher. Denn, jeder weiß: Auch die Schließung des Event- und Kultursektors wird nicht reichen.
"Wir dürfen uns jetzt keine Fehler mehr erlauben!", mahnt eindringlich De Standaard. Der Handlungsspielraum geht gegen null. Die Krankenhausverantwortlichen warnen, dass bald auch hierzulande zur Triage übergegangen werden muss, dass man also entscheiden muss, welchen Patienten man behandeln kann und welchen nicht. Es besteht noch eine kleine Chance, dass der Höhepunkt der Welle erreicht ist und das Schlimmste noch verhindert werden kann. Allein darauf zu hoffen, das ist aber keine Politik, sondern eine Wette; und der Einsatz, das ist die Volksgesundheit. Jetzt darf es nur noch darum gehen, den Kollaps unseres Gesundheitssystems zu verhindern. Das ist die Priorität der Prioritäten.
Gesucht: Mittelfristige Perspektiven
"Was für ein Chaos!", murrt denn auch Le Soir. Es ist, als hätten wir unseren Covid-Kompass verloren. Das Covid-Safe-Ticket wird von der Justiz infrage gestellt; die Teststrategie wurde zum x-ten Mal geändert; an einem Tag erfährt man, dass ein wallonischer Arzt hunderte Impfnachweise gefälscht hat, am nächsten hört man, dass im flämischen Kontakt-Tracing geschummelt wurde. In den Schulen herrscht das nackte Chaos, in einigen Städten kann stellenweise der Müll nicht mehr abholt werden, weil zu viele Müllmänner krank sind. In vielen Krankenhäusern brennt der Baum. Und jetzt liegt plötzlich wieder ein Konzertierungsausschuss in der Luft.
Klar: Man möchte nicht in der Haut der Verantwortlichen stecken. Die Situation ist in vielen Bereichen extrem volatil. Dennoch: Wir brauchen auch mal mittelfristige Perspektiven. So hätte man die Debatte über eine allgemeine Impfpflicht viel früher anstoßen müssen. Wir müssten doch längst wissen, dass wir dieses Virus so schnell nicht loswerden.
Roger Pint