"Astrazenechaos", titelt Le Soir in großen Buchstaben auf Seite eins. "Hoher Gesundheitsrat entscheidet: Belgien impft weiter mit Astrazeneca", schreibt das GrenzEcho. "Ganz Europa hört mit Astrazeneca auf, Belgien macht weiter – Politiker und Experten bezeichnen Impfstoff als sicher", so die Überschrift bei Het Nieuwsblad.
Astrazeneca oder kein Astrazeneca?, bringt Le Soir die Gretchenfrage auf den Punkt. Es ist der Eindruck entstanden, dass die Impfung zum russischen Roulette geworden ist. Und das ist eine Katastrophe. Nach all den Monaten Lockdown, Maskentragen, Pannen und Verzögerungen zeichnet sich ein neues Worst-Case-Szenario ab. Und das können wir nicht gebrauchen, schon gar nicht gerade jetzt. Der Zweifel an Astrazeneca bedroht die ganze Impfkette, die mit so viel Mühe und Schwierigkeiten aufgebaut worden ist. Das bedroht auch den Kampf gegen das Coronavirus, die Rückkehr zu einem normalen oder normaleren Leben, das Vertrauen in Wissenschaft, Industrie und Politik. Ganz zu schweigen davon, dass auch die Einzigartigkeit des gemeinsamen europäischen Vorgehens untergraben wird. Einmal mehr heißt es jetzt: jeder für sich. Und das zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt. Die politisch Verantwortlichen stehen vor einer schweren Entscheidung: Aussetzen und damit zeigen, dass man vorsichtig ist? Das könnte aber die Zweifel noch verstärken. Oder nicht aussetzen und damit den Zweifel in Kauf nehmen und das Vorsorgeprinzip nicht anwenden? Zwei Impf-Tage gewinnen? Aber zu welchem Preis in der Bevölkerung? Und was, wenn am Donnerstag nach der Sitzung der Europäischen Arzneimittelagentur die Wette Belgiens nicht aufgegangen ist?, fragt Le Soir.
Des einen Panik ist des anderen Vorsorge
Aus der Ferne betrachtet scheint es, als ob in manchen europäischen Chefetagen die Panik übernommen hat, kann auch De Morgen nur feststellen. Experte um Experte nuanciert und beschwichtigt. Die nackten Zahlen geben wenig Grund zur Beunruhigung. Warum wird also so hart auf das Bremspedal getreten? Die Herangehensweise anderer Länder scheint wie ein Fieberschub, eine Nebenwirkung der ohnehin nicht rund laufenden Impfkampagnen. So gesehen erscheint die belgische Haltung mutig und standfest. Aber kann man es Regierenden vorwerfen, wenn sie Vorsicht und Sorgfalt walten lassen? Des einen Panik ist des anderen Vorsorge. Belgien folgt der Linie der Europäischen Arzneimittelagentur EMA und der Weltgesundheitsorganisation WHO. Und hat damit Recht. Aber für eine Regierung gibt es keine richtige Wahl mehr. Drückt man auf die Pausentaste, riskiert man, der Angst nachzugeben und eine bereits langsame Impfkampagne noch weiter zu verlangsamen. Tut man es nicht, könnte sich später herausstellen, dass man unvorsichtig gewesen ist. Egal wie man es macht, es ist verkehrt, befürchtet De Morgen.
Von der Tarantel gestochen
Was ist los mit den Regierenden?, fragt sich entgeistert das GrenzEcho. Früher galten fürs Regieren Fähigkeiten wie Umsicht und Weitsicht, Richtung vorgeben und einen kühlen Kopf bewahren selbst dann, wenn ringsum alles ins Wanken gerät. All das scheint wie von einem Tsunami weggefegt. Zum Glück hat Belgien sich (noch) nicht von der allgemeinen Hysterie anstecken lassen und es vermieden, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Hoffentlich bleibt das so. Man tut sich schwer nachzuvollziehen, welche Tarantel – offensichtlich mit einer Ansteckungsrate jenseits selbst der "britischen Mutante" des Coronavirus – Experten und Politiker gleichermaßen in anderen Ländern gestochen hat. Wie kann man als politisch Verantwortlicher die so wichtige und von so vielen Menschen herbeigesehnte Erlösung aus der Pandemie durch Herdenimmunität mit einem Federstrich sabotieren? Für die Corona-Impfkampagne gilt nun leider auch: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde mehr. Die weitere zügige Impfung älterer und gesundheitlich schwächerer Menschen aus Angst vor mutigen Entscheidungen zu gefährden, ist grob fahrlässig, wütet das GrenzEcho.
Eigentlich spielt es keine große Rolle mehr, was die EMA am Donnerstag über den Astrazeneca-Impfstoff zu erzählen haben wird, glaubt Gazet van Antwerpen. Der Schaden ist angerichtet. Europa hat sich einmal mehr vollkommen gespalten gezeigt. Die Folge: Das Vertrauen der Menschen in das Vakzin von Astrazeneca und vielleicht auch anderer Hersteller ist erschüttert. Die Impfkampagnen verzögern sich. All das, während das Virus weiter heftig wütet. Wir können uns dieses Chaos echt nicht erlauben, mahnt Gazet van Antwerpen.
Manche Probleme gehen nicht mit Van Avermaet weg
Das zweite große Thema in den Leitartikeln ist die Entlassung des Geschäftsführers von Bpost, Jean-Paul Van Avermaet. Weil der Verwaltungsrat untätig blieb, hat jetzt die Regierung eingegriffen, kommentiert das etwa Het Nieuwsblad. Die Frage ist aber, ob das nicht reichlich spät kommt. Auf einem Niveau wie der Führung von Bpost ist kein Platz für Pfusch. Wenn es irgendwo eine starke Führung gebraucht hätte, dann hier. Aber die Wirklichkeit war eine andere. Jean-Paul Van Avermaet kam ziemlich vorbelastet zu Bpost. Wegen möglicher Preisabsprachen wird gegen die Firma G4S ermittelt, deren Leiter er zuvor war. In diesem Zusammenhang wurde Van Avermaet auch mangelnde Transparenz vorgeworfen. Aber der Verwaltungsrat machte keinen Pieps. Mangelnde Tatkraft, zu parteiische Einstellungen, zu wenige Gegengewichte. Das sind Probleme, die auch nach dem Weggang Van Avermaets weiterbestehen werden, giftet Het Nieuwsblad.
De Standaard fragt sich, ob der Staat als Mehrheitsaktionär nicht schon viel früher hätte anfangen müssen, nach einem neuen Geschäftsführer für Bpost zu suchen. Natürlich gilt immer die Unschuldsvermutung, aber an der Börse gelten noch andere Gesetze. Ein Geschäftsführer, dessen Integrität in Zweifel steht, wird immer als nicht hinnehmbares Risiko betrachtet. Aber sowohl Verwaltungsrat als auch die Rue de la Loi haben Van Avermaet gewähren lassen. Das änderte sich auch nicht, als Ermittlungen gegen G4S und Van Avermaet in den Vereinigten Staaten begannen. Erst die dramatisch schlechten Jahresgeschäftszahlen sorgten dafür, dass sich etwas tat. In wenigen Jahren sind bei Bpost vier Milliarden Euro Börsenwert in Rauch aufgegangen. Das sind öffentliche Gelder. Wäre es um Privatkapital gegangen, hätten die Anteilseigner sicher nicht so lange gewartet, um für Ordnung zu sorgen. Die Zusammenstellung eines schlagkräftigeren Verwaltungsrats darf keinesfalls weiter aufgeschoben werden, wettert De Standaard.
Boris Schmidt