"Ein Jahr Lockdown" titeln heute fast gleichlautend De Tijd, L'Echo und De Standaard. "Die Polizei hat in einem Jahr mehr als 231.000 Protokolle erstellt", meldet passend dazu Le Soir auf Seite eins. "Ein Jahr Covid – Der Horeca-Sektor ist am Ende", so der Aufmacher bei La Dernière Heure.
Vor genau einem Jahr wurde in Belgien der erste Lockdown im Rahmen der kurz vorher ausgerufenen Corona-Pandemie verhängt, erinnert das GrenzEcho. Es fällt schwer zu glauben, dass wir seit nunmehr einem Jahr in einer Art Schwebezustand und Ausnahmesituation leben. Damals waren viele der Meinung, nach einem kurzen, massiven Herunterfahren des normalen Lebens würden wir wieder voll durchstarten.
Ein Jahr danach ist man allgemein vorsichtiger mit Prognosen jedweder Art – ja, geradezu ernüchtert. Die staatlichen Maßnahmen zur Stützung der Wirtschaft haben viele Härtefälle abgefedert und manch dramatische Situation verschleiert. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusehen, dass mit dem sich abzeichnenden Ende der staatlichen Konjunkturstützen eine ganze Reihe von Unternehmen in Insolvenz gehen werden. Mit allen Folgen, die das für Beschäftigte, verknüpfte Unternehmen und die Wirtschaft insgesamt haben wird, warnt das GrenzEcho.
Auch La Libre Belgique blickt auf die Wirtschaft. Ein Jahr nach Beginn der Krise bleibt die Lage verschwommen, was die wirklichen Folgen für die Unternehmen angeht. Deutlich ist hingegen der grausame Mangel an Perspektiven für die Wirtschaft. Und das liegt nicht nur an der chaotischen Impfkampagne. Die Unterstützungsmaßnahmen, so notwendig sie auch sind, werden oft extrem kurzfristig beschlossen. Was hier eindeutig fehlt, sind eine föderale Sicht auf die Gesamtsituation, eine kurz-, mittel- und langfristige Strategie, um das Überleben der überlebensfähigen Unternehmen zu sichern, und eine phasenweise Begleitung ihrer Umstrukturierung. Die Wirtschaft braucht vor allem Gewissheiten. Denn es sind Gewissheiten, die bestimmen, was in puncto Rekrutierung, Fortbildung und Investitionen unternommen wird. Und der Mangel an Vertrauen in der Wirtschaft illustriert bestens das strategische Vakuum bei der Regierung, wettert La Libre Belgique.
Lernen statt nur vergessen
L'Echo fordert ebenfalls Vision und Strategie für die Wirtschaft - und die müssen über die politische Selbstdarstellung hinausgehen. Die Krise hat auch zahlreiche weitere Mängel ans Licht gezerrt. Unser Entscheidungssystem, unser Mangel an Effizienz, unsere institutionelle Lähmung haben zu inakzeptablen Pannen und Entgleisungen geführt, die viele Menschenleben gefordert haben. Die schlechte Kommunikation hat die Abgehängten der Gesellschaft und die Verschwörungstheoretiker in die Arme der Populisten getrieben.
Aber die Krise hat auch dazu geführt, dass Dinge erreicht worden sind, die zuvor für unmöglich gehalten worden sind. Sie hat uns dazu gezwungen, über uns selbst hinauszuwachsen. Wer hätte etwa vor einem Jahr vorhersagen können, welche Fortschritte es in Sachen Telearbeit und Digitalisierung geben würde? Oder bei der Erforschung und Entwicklung der sogenannten "messenger" oder "Boten-RNA", die einigen Corona-Impfstoffen zugrunde liegt? Oder dass sich die 27 Länder der Europäischen Union zu einem gemeinsamen Konjunkturpaket von 750 Milliarden Euro zusammenraufen würden, mit dem unter anderem Nachhaltigkeit und Digitalisierung gefördert werden sollen? Diese zwölf Monate sollten nicht einfach nur ein Albtraum bleiben, den wir möglichst schnell vergessen wollen. Sondern sie sollten uns auch lehren, uns dort zu verbessern, wo es nötig ist, wünscht sich L'Echo.
Het Laatste Nieuws glaubt derweil, eine gewisse Aufbruchstimmung zu erkennen und vergleicht die aktuelle Lage mit der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg. Egal, wie dramatisch und hoch der Preis ist, den wir im letzten Jahr zahlen mussten, die Menschen wollen jetzt vor allem eins: feiern. Das sieht man daran, dass viele Örtlichkeiten schon für Tage ausgebucht sind, sobald der Horeca-Sektor im Mai wieder öffnen darf. Es ist wahr, dass wir von Impffortschritten wie in den Vereinigten Staaten und einem "Unabhängigkeitstag vom Virus" am 4. Juli nur träumen können, wie ihn Präsident Joe Biden angekündigt hat. Aber dennoch kann man auch hierzulande an vielen Orten beobachten, wie getestet, nach Lösungen gesucht, die Kreativität angestrengt und sich vorbereitet wird, meint Het Laatste Nieuws.
Erstickende Sicherheit
De Standaard befasst sich in seinem Kommentar hingegen mit einer dunklen Seite der Pandemie: der Überwachung und Einschränkung der Menschen. Dank der Technologie, die ursprünglich für die Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität entwickelt und überall installiert wurde, sind wir jetzt alle zu Kriegsgefangenen geworden.
Man hat uns die Freiheit genommen, zu essen, zu trinken, zu kuscheln mit wem wir wollen. Selbst bis in den privaten Bereich bei uns zu Hause reichen die Verbote hinein. Die Freiheit, Gottesdienste zu veranstalten und zu besuchen, ist beschnitten. Seit Monaten dürfen wir nachts nicht mehr auf die Straße. Auf vielen Straßen ist es selbst verboten, zu atmen, wenn man keine Mundschutzmaske trägt. Geldbußen und Festnahmen hängen ständig wie ein Damoklesschwert über uns allen. Der Terror hat gelehrt, dass wir vor allem Sicherheit fordern. Vielleicht lässt uns Corona einsehen, dass wir an dieser Forderung ersticken, so die scharfe Kritik von De Standaard.
Bloß nicht bremsen oder anhalten!
L'Avenir schließlich greift die Polemik um den Astrazeneca-Impfstoff auf. Dessen Verwendung ist ja von verschiedenen Ländern ausgesetzt worden, um einen möglichen Zusammenhang mit Blutgerinnseln zu untersuchen. Wenn man Probleme hat, ein Auto in Gang zu bekommen und das Fahrzeug dann nach Stottern und Qualmen endlich doch läuft, dann zögert der Fahrer, auch nur zu bremsen oder gar wieder anzuhalten. Und das ist genau das, was gerade mit der belgischen Impfstrategie passiert. Noch weit von so etwas wie einem normalen Rhythmus entfernt und mit einer teils misstrauischen Bevölkerung darf man jetzt vor allem keinen Kolbenfresser riskieren.
Objektiv betrachtet ist der Impfstoff von Astrazeneca wohl kaum gefährlicher als die anderen. Aber die Menschen sind von den Nachrichten aus dem Ausland beunruhigt. Sie überschwemmen die Callcenter mit Fragen, sie zögern, verweigern das suspekte Vakzin. Während der Fahrer seine Reise fortsetzt, braut sich der Ärger zusammen. Eine Pause auch in Belgien hätte die Passagiere sicherlich beruhigt. Stattdessen drückt einmal mehr das Durcheinander auf das Gaspedal, ärgert sich L'Avenir.
Boris Schmidt