"Die französische Blockade führt zu Monsterstaus", titelt De Tijd. "Hunderte Lastwagen sind in Großbritannien blockiert", schreibt L'Echo. Beide Blätter drucken auf Seite eins ein Foto ab, das einen Flughafen in Südengland zeigt, der zum Parkplatz umfunktioniert wurde. Dort stehen im Moment fast 900 LKW, andere Zeitungen schätzen die Zahl wesentlich höher ein. Auf einer Autobahn Richtung Dover stehen nochmal 650 Lastwagen.
Frankreich, die Niederlande und Belgien haben ja ihre Verbindungen mit Großbritannien unterbrochen, nachdem bekannt geworden war, dass in Südengland eine neue Corona-Variante um sich greift. Frankreich hat die Grenzen um Mitternacht unter Auflagen wieder geöffnet. Heute dürfen auch Flug- und Zugverbindungen zwischen Großbritannien und Belgien wieder aufgenommen werden, allerdings erstmal nur für Menschen, die in Belgien ihren Hauptwohnsitz haben.
Jos und Josepha werden als erstes geimpft
"Die erste Impfung ist für Jos", so derweil die Aufmachergeschichte von Het Nieuwsblad. "Der 96-jährige Jos bekommt die erste Spritze", schreiben auch Gazet van Antwerpen und Het Belang van Limburg. Jos Hermans ist Bewohner eines Alten- und Pflegeheims in Puurs bei Antwerpen. Der 96-Jährige wird der erste Flame sein, der geimpft wird. "Dank der Spritze werde ich bestimmt 100", sagt der lustige ältere Herr auf Seite eins von Het Laatste Nieuws. Le Soir zeigt seinerseits Fotos von zwei Personen: Neben Jos ist darauf auch die 102-jährige Josepha Lambotte aus Mons, die als erste in der Wallonie geimpft wird, zu sehen. Le Soir betont: "Diese beiden werden die ersten Belgier sein, die geimpft werden."
"Der Impf-Zug hat den Bahnhof verlassen", freut sich Het Belang van Limburg. Das ist ein Hoffnungsschimmer für so viele Menschen. Mehr denn je sehnen wir uns danach, unsere alte Bewegungsfreiheit zurückzubekommen. Doch hat auch mal einer an die Entwicklungsländer gedacht? Die reichen Länder haben den Markt quasi leergekauft. Das ist zwar irgendwo verständlich, doch haben die meisten Staaten gleich drei Impfungen pro Einwohner vorgesehen. Muss das sein? Dieser überzogene Impf-Nationalismus sorgt dafür, dass für die ärmeren Länder im Moment so gut wie nichts übrigbleibt. Schuld ist aber auch die Pharmaindustrie. Die Unternehmen haben zwar phantastische Arbeit geleistet, vergessen aber manchmal, dass sie für ihre Forschung auch milliardenschwere Fördermittel bekommen haben. "Wäre es wirklich so schwer, die ganze Menschheit von dieser Errungenschaft profitieren zu lassen?", fragt sich Het Belang van Limburg.
In diese Bresche ist längst schon jemand anders gesprungen, bemerkt aber Le Soir. China übt sich gerade in einer veritablen Impf-Diplomatie. Zu Beginn der Pandemie stand das Land noch am Pranger. Weil Peking diejenigen, die Alarm geschlagen hatten, zum Schweigen gebracht hatte, weil man nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte, weil man eine internationale Untersuchung über den Ursprung des Virus ablehnte. Jetzt versucht das Regime sich gewissermaßen freizukaufen, indem man den chinesischen Impfstoff den ärmeren Ländern anbieten will. Der ist zwar nicht so effizient wie die Präparate von Pfizer oder Moderna, ist aber kostengünstiger und auch einfacher zu lagern. Nach den Negativschlagzeilen von vor einem Jahr könnte China diese - geopolitische - Runde für sich entscheiden.
Empörung über den Egoismus einiger
Zurück nach Belgien, wo Gesundheitsexperten und politisch Verantwortliche mit Sorgenfalten die Festtage erwarten. L'Avenir bringt heute jedenfalls noch einmal die "Bedienungsanleitung für Weihnachten". Das Blatt dröselt die geltenden Regeln noch einmal auf: " Alles, was für ein besonnenes Weihnachten erlaubt ist", so die Schlagzeile auf Seite eins.
Einige Blätter reiben sich aber schon wieder die Augen: "Haben Sie die absurden Bilder der überfüllten Abflughalle des Flughafens von Charleroi gesehen?!", empört sich etwa Het Nieuwsblad. Reisende, die dicht an dicht auf ihren Start in die Sonne warteten. Unfassbar, dass die Verantwortlichen des Airports und der Fluggesellschaften das zugelassen haben. Die eigentlichen Schuldigen, das sind allerdings all diejenigen, die das Ich über das Gemeinwohl stellen. Von Reisen wird nachdrücklich abgeraten. Und doch stehen seit Tagen lange Warteschlagen in den Flughäfen. Da gibt es einen roten Faden: eben das Ich, Ich, Ich. Lockdown-Partys machen uns wütend, ebenso Fußballer, die sich in den Armen liegen. Das untergräbt die Motivation. Aber diese Ich-Ich-Ich-Karawane in den Süden, die sorgt für den gleichen Frust. Denn, dass die alle danach brav die Quarantäne-Regeln einhalten werden, das glaubt auch keiner. All diese Corona-Muffel sorgen mit ihrem Verhalten dafür, dass die strengen Maßnahmen noch länger gelten werden. Das ist diesen Egos offensichtlich auch egal.
Konsum statt Kirche
Und demgegenüber müssen die Gottesdienste weiterhin mit maximal 15 Gläubigen stattfinden, bedauert Gazet van Antwerpen. Die Supermärkte erwarten für heute einen regelrechten Ansturm. Die Verantwortlichen betonen aber, dass selbstverständlich weiter die Regel gilt: nur ein Kunde je zehn Quadratmeter. Würde man das auf die Koekelberg-Basilika anwenden, dann könnten 1.000 Menschen dem Gottesdienst in der Kirche beiwohnen. Aber wir geben offensichtlich dem Konsum den Vorrang.
Het Laatste Nieuws macht sich Sorgen über das allgemeine Klima. Inzwischen häufen sich die Fälle von Denunziation. Die Polizei wird überschüttet mit oft anonymen Tipps über Mitbürger, die sich angeblich nicht an die Regeln halten. Vor einigen Monaten standen wir noch auf dem Balkon, um für die Pflegekräfte zu applaudieren, jetzt stehen wir hinter der Gardine und bespitzeln unsere Nachbarn. Man kann das für Bürgersinn halten, doch ist die wirkliche Motivation oft Neid, Missgunst, oder das Begleichen alter Rechnungen. All diejenigen, die meinen, der Allgemeinheit dadurch einen Dienst zu erweisen, die sollten sich an den alten Bibelspruch erinnern: "Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein".
"Was hat das Virus mit uns gemacht?", fragt sich auch nachdenklich La Libre Belgique. Nachbarn verpfeifen Nachbarn, weil dort angeblich eine Frisörin heimlich arbeitet, weil dort angeblich zu viele Gäste anwesend sind. Klar: Wenn wir eine Dritte Welle vermeiden wollen, dann müssen sich möglichst alle an die Regeln halten. Aber, frei nach George Orwell: "Das Ziel ist es vielleicht nicht nur am Leben, sondern menschlich zu bleiben".
Roger Pint