"Vernichtende Kritik an belgischem Corona-Management", schreibt Gazet van Antwerpen auf Seite eins. "Acht Minister für Volksgesundheit: Das klappt nicht – Belgisches System hat Leben gekostet", so die Überschrift bei Het Nieuwsblad. Dieses Zitat packt auch Het Belang van Limburg auf seine Titelseite: "Politiker stimmen Van Ranst zu: Unser System hat Leben gekostet".
Außer den Roten Teufeln gibt es gerade nicht sehr viel, auf das man als Belgier stolz sein kann, seufzt Gazet van Antwerpen. Das ist auch gestern wieder deutlich geworden, als der Chefredakteur der renommierten wissenschaftlichen Zeitschrift "The Lancet" vor dem Kammerausschuss zum belgischen Corona-Krisenmanagement aussagte. Er kritisierte vor allem die komplizierte politische Struktur des Landes. Die hat Menschenleben gekostet, so sein unbarmherziges Urteil. Die Kritik an der institutionellen Zersplitterung ist nicht neu. Allerdings kommt sie selten so deutlich und hart von außen. Aber es ist ja auch schwer, Ausländern zu erklären, wie Belgien sowohl in der ersten, als auch in der zweiten Corona-Welle die Statistiken anführen kann. Dann noch das ewige Regierungsbildungsgehampel trotz der größten Gesundheitskrise des Jahrhunderts, die Kommunikationskakophonie, dass ein so kleines Land wirklich acht Gesundheitsminister braucht …
Politiker führen die schwache Leistung Belgiens gerne als Beleg an, um mehr Autonomie für die Regionen zu fordern. Und das obwohl auch gerade hier sehr viel sehr verkehrt gelaufen ist, nicht nur in Sachen Corona. Es läuft nicht gut mit unserem Land. Und zwar weder im Norden, noch im Süden. Und die Corona-Epidemie lässt uns keine Zeit für die so notwendige Reorganisation. Glücklicherweise gibt es aber viele beherzte Belgier aus allen Ecken des Landes, die diese schlechte Zeit mit Mut und Einfallsreichtum durchstehen und die bereit sind, nach der Krise die Trümmer wegzuräumen. Jetzt bräuchte es nur noch Politiker, die sie begeistern und führen könnten.
Selbstständige unterstützen
La Dernière Heure greift in ihrem Leitartikel den Selbstmord einer jungen Selbstständigen in Lüttich auf. Nach einer Studie spüren 70 Prozent der Menschen im Land keine finanziellen Konsequenzen durch die Coronakrise. Die Selbstständigen gehören allerdings zu den anderen 30 Prozent. Und ihr Leben war oft schon vor der Pandemie kein Zuckerschlecken. Und jetzt mussten sie bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr die Türen schließen zu dem, was oft ihr Lebenswerk darstellt. Und die laufenden Kosten müssen weiterbezahlt werden, Lockdown hin oder her. Auf Hilfe von den Behörden, so sie denn kommt, müssen sie oft lange warten. Unterstützung für die Selbstständigen kann aber auch von uns kommen. Indem wir weiter bei ihnen einkaufen oder bei ihnen bestellen. Und manchmal würden auch einfach nur ein paar ermutigende Worte reichen.
(Selbst-)Geiselnahme
Viele andere Zeitungen beschäftigen sich in ihren Kommentaren allerdings mit der neuen, durch Polen und Ungarn heraufbeschworenen Krise innerhalb der Europäischen Union. Den beiden Ländern war es ja nicht gelungen, den neuen Rechtsstaatmechanismus zu verhindern. Länder, die den Rechtsstaat und die Unabhängigkeit der Richter nicht respektieren, könnten in Zukunft also mit Kürzungen der EU-Fördergelder bestraft werden. Im Gegenzug blockieren Budapest und Warschau jetzt den EU-Haushalt für die kommenden sieben Jahre und den Corona-Hilfstopf.
Ungarn hat nach Polen jetzt auch sogenannte "LGBT-freie Zonen" eingeführt, erinnert Het Belang van Limburg. Und erst am Samstag steckten Rechtsextreme in Warschau einen Wohnblock in Brand, an dem eine Regenbogenfahne hing. Wie lange kann die EU so eine staatlich geführte Diskriminierung eigentlich noch dulden? Was tun mit Mitgliedsstaaten, die Europäische Grundrechte mit Füßen treten? Die die freie Presse abschaffen? Die die Justiz mundtot machen? Um solchen Ländern Einhalt zu gebieten, gibt es eben den neuen Sanktionsmechanismus. Dass Polen und Ungarn jetzt die Gelder blockieren, die ihnen selbst zu einem beträchtlichen Teil zugutekommen würden, ist eine Selbst-Geiselnahme. Aber sie zeigt deutlich, welche Angst die beiden davor haben, dass ihnen der Geldhahn zugedreht werden könnte, wenn sie ihre autoritären Tendenzen weiter ausbauen. Die Frage ist nun, wer dieses Tauziehen gewinnt und wer zuerst einknicken wird. Und das Ergebnis wird entscheidend sein für die zukünftige Richtung des Europäischen Projekts.
Auch für L'Echo ist das Ganze eine Geiselnahme. Allerdings eine der übrigen 25 Mitgliedsstaaten durch Polen und Ungarn. Die beiden osteuropäischen Länder blockieren so den Haushalt, der für 400 Millionen Europäer überlebenswichtig ist. Und sie blockieren Europa auch an einem entscheidenden Punkt, was das Überleben der Union an sich angeht. Man könnte fast meinen, Polen und Ungarn schwelgten plötzlich wieder in Sehnsucht nach der sowjetischen Diktatur mit ihren Maulkörben für Justiz und Medien.
Alles haben, aber nichts geben wollen
Eigentlich dürften Polen und Ungarn nicht mehr zur Europäischen Union gehören, kommentiert Le Soir. Da ihre Führer die Werte der Union nicht mehr teilen, sollten sie es Großbritannien nachmachen und die Verbindungen kappen. Vonseiten der EU wäre es juristisch betrachtet unmöglich und politisch extrem schwierig, Polen und Ungarn hinauszuwerfen. Aber man kommt nicht umhin, festzuhalten, dass sie weiter ungestraft den Rechtsstaat demontieren. Und dass sie bereit sind, den anderen 25 europäischen Ländern in einer Zeit größter gesundheitlicher und wirtschaftlicher Not in den Rücken zu fallen. Da muss man sich schon die Frage nach dem Sinn eines Europäischen Projekts stellen, dass sich dem Diktat zweier Staaten beugt, die zwar alles haben, aber dafür nichts geben wollen.
Boris Schmidt