"Gratis Impfstoff für alle, aber keine Impfpflicht", schreibt L'Avenir auf Seite eins. "Belgien hofft, 70 Prozent seiner Bevölkerung auf freiwilliger Basis impfen zu können", so La Libre Belgique. "Und jetzt noch acht Millionen Belgier impfen", bringt De Morgen die Herausforderung auf den Punkt.
Gestern haben sich die verschiedenen Gesundheitsminister des Landes auf diese ersten Eckpunkte der belgischen Coronavirus-Impfstrategie geeinigt.
Auch die Nachrichten über immer effizientere Impfstoffe sind gut, kommentiert L'Echo. Die Weltgesundheitsorganisation hat aber bereits gewarnt, dass ein Impfstoff das Virus nicht wie von Zauberhand verschwinden lassen wird. Wir werden uns also noch lange Zeit an die anderen Schutzmaßregeln halten müssen. Und in diesen Kontext bettet sich die belgische Impfstrategie ein. Die politisch Verantwortlichen können sich nicht erlauben, das zu versemmeln.
Bisher hat Belgien in Sachen Corona ja nicht gerade geglänzt. Die größte Herausforderung ist jetzt, eine Mehrheit der Bevölkerung zu überzeugen, sich impfen zu lassen. Und das wird keine Kleinigkeit werden. In einem Klima so großen Misstrauens gegenüber Autoritäten wie jetzt und angesichts der Verschwörungstheorien und Falschnachrichten wird es mehr als einen netten Brief an den Nikolaus brauchen.
Ehrliche Antworten
Volksweisheiten-ähnliche Geschichten, kaum überprüfbare Anekdoten und Fake News bilden den Kern des Arsenals der Impfgegner, hebt auch De Morgen hervor. Diese Menschen meinen zu Unrecht, einfache Antworten für ein angeblich gesundes Leben zu kennen. Man solle der Chemie und dem medizinischen Fortschritt misstrauen, meinen sie. Und sich nicht etwa von der Pharmaindustrie, Regierungen und den Medien täuschen lassen. Die Zweifel am Nutzen von Impfstoffen sind kein neues Phänomen. Und das Hauptproblem ist auch nicht der harte Kern der Impfverweigerer, sondern die viel größere Gruppe von Menschen, die einfach Zweifel hat. Oft bekommen sie keine ausreichenden Antworten auf gerechtfertigte Fragen. Und dann ziehen sie eben selbst im Internet los, wo sie dann oft sehr zweifelhafte Auskünfte finden.
Der wichtigste Auftrag für unsere Regierungen ist denn auch, die Gruppe der Impfverweigerer möglichst klein zu halten. Und auch wenn die Belgier in der Vergangenheit gut mitgemacht haben bei Impfungen, braucht es nicht viel, um das ins Wanken zu bringen. Die Regierungen sollten nicht davon ausgehen, dass sich 70 oder 80 Prozent der Menschen brav werden impfen lassen. Und deswegen brauchen wir eine durchdachte Kampagne, die so schnell wie möglich anlaufen sollte und ehrliche Antworten auf alle möglichen Fragen liefert.
Wenn der gesunde Menschenverstand versagt
Dass die Impfung freiwillig sein soll, wird bei manchen Skeptikern sicher noch mehr Misstrauen hervorrufen, meint Het Nieuwsblad. Allerdings würde eine Impfpflicht vor allem den Kräften eine Steilvorlage bieten, die das Ganze ideologisch ausschlachten wollen. Die Verschwörungstheorien, die Anstiftungen, keine Tracing-App zu benutzen oder gegen Lockdowns zu protestieren – diese Angriffe kommen vor allem aus der populistischen und rechtsextremen Ecke. Diese Menschen hoffen, so noch mehr Chaos zu säen. Die Impf-Botschaft muss also bis in alle Winkel der Gesellschaft vordringen. Und falls das nicht reichen sollte, ist zu erwarten, dass einem die Impfung eben anderweitig aufgedrängt werden wird. Wer auf ein Festival oder ins Ausland will, wird wohl einen Impfnachweis benötigen. Und es wäre nicht schwer, so etwas auch auf Restaurant- oder Altenheimbesuche auszudehnen. Es wäre nicht schön, zu solchen Mitteln greifen zu müssen. Aber wenn der gesunde Menschenverstand versagt, muss das eben sein.
L'Avenir hebt einen anderen Aspekt hervor, der die Impfmotivation der Menschen negativ beeinflusst. Nämlich die wissenschaftlichen Streitigkeiten und Kontroversen, die es seit dem Ausbruch der Pandemie gegeben hat. Sie und die ständigen Richtungswechsel der politisch Verantwortlichen haben zu dem Klima des Misstrauens beigetragen. Ebenso wie die im Internet verbreiteten Falschnachrichten. Und das wird schwer wiedergutzumachen sein.
Eine Frage der Prioritäten
Le Soir befasst sich derweil bereits mit dem nächsten Schritt: Festzulegen, wer den Impfstoff in welcher Reihenfolge bekommen soll. Die Frage, wer und warum zuerst dran kommen soll, wird entscheidend sein. Mit der Antwort auf diese Frage sollte man nicht warten, bis die ersten Impfdosen eintreffen. Das wird eine große Herausforderung für die Regierungen werden. Dieses Mal darf nichts dem Zufall überlassen werden. Die Bevölkerung muss durch das Vorgehen unbedingt geeint, und nicht gespalten werden.
Mit der Frage der Priorisierung befasst sich auch Gazet van Antwerpen. Der föderale Gesundheitsminister Frank Vandenbroucke hat bereits angekündigt, dass zuerst die Menschen an die Reihe kommen werden, die im Gesundheitswesen arbeiten. Aber wer soll danach kommen? Entweder man entscheidet sich für die gefährdetsten Menschen und minimiert dadurch die Opferzahl. Oder man gibt einer schnellen Normalisierung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens und dem Unterrichtswesen den Vorrang. Diese Wahl wird getroffen werden müssen. Und letztlich wird die Politik die Verantwortung dafür tragen müssen, genauso wie für die Logistik bei der Verteilung der Impfstoffe. Es darf nicht sein, dass es durch Verzögerungen zu weiteren unnötigen Opfern kommt. Um einen reibungslosen Ablauf sicherzustellen, werden noch viele Absprachen und Einigungen zwischen den zuständigen Stellen und Verantwortlichen notwendig sein.
Boris Schmidt