"De Wever sieht Abtreibungsgesetz als Knackpunkt", schreiben gleichlautend De Morgen und Het Laatste Nieuws auf Seite eins. "Abtreibung – De Wever platziert eine Zeitbombe unter der Arizona-Mehrheit", so die Überschrift bei Le Soir. "Abtreibungsgesetz wird zum Spaltpilz in der Regierungsbildung", titelt Het Nieuwsblad.
Der N-VA-Vorsitzende hat am Wochenende den Parteien, die eine Abstimmung über eine Lockerung des Abtreibungsgesetzes zulassen wollen, die Pistole in Sachen Regierungsbildung auf die Brust gesetzt. Eine Koalition mit solchen Parteien sehe er als sehr schwierig, so sinngemäß De Wever.
Seit Beginn der Verhandlungen über eine Arizona-Koalition hatte sich der N-VA-Vorsitzende in Schweigen gehüllt, erinnert Le Soir. Aber alle waren überzeugt, dass das nicht ewig andauern könne und dass De Wever den Tag der Flämischen Gemeinschaft für seinen Auftritt wählen würde. Sie sind nicht enttäuscht worden. Allerdings war die Angriffsrichtung überraschend. Seitdem ergehen sich alle in Vermutungen. Was macht die N-VA auf dem Lieblingsschlachtfeld der CD&V? Welche Folgen hat das für die Regierungsverhandlungen? Ist es nur ein Vorwand, um mit den Liberalen Krieg vom Zaun zu brechen? Diese Episode macht die Suche nach einer Regierung jedenfalls noch grotesker. Es geht nicht um Herausforderungen, Strategien und gemeinsame Projekte in Sachen Ökologie, Volksgesundheit, Haushalt oder die Effizienz des Staates. Nein, stattdessen prügelt man sich um und verteufelt einen als Geisel genommenen, längst ausdiskutierten Gesetzestext, um einen Hebel für die Regierungsverhandlungen zu haben. Und das auf dem Rücken des Gewissens und der Not von Frauen, giftet Le Soir.
Verkehrte Prioritäten
Das sieht auch Het Nieuwsblad so: Hier geht es nicht darum, wer in der Abtreibungsfrage Recht oder Unrecht hat. Dass das jetzt zum Knackpunkt der Koalitionsverhandlungen gemacht wird, zeigt vor allem, wie verkehrt die Prioritäten der Politik liegen. Und ethisch bedeutsame Themen haben sicherlich Besseres verdient, als zum Wetteinsatz eines Armdrückens degradiert zu werden. Und die Erklärung, dass eben genug Parteien mit am Arizona-Verhandlungstisch sitzen, die lieber auf anderen Pfaden wandeln würden und sich deshalb nicht davor scheuen, mit ethischen Dossiers Sand ins Getriebe zu streuen, stimmt auch nicht fröhlicher, analysiert Het Nieuwsblad.
Die Botschaft der N-VA ist vor allem an die OpenVLD gerichtet, ist Gazet van Antwerpen überzeugt. Obwohl die Partei eigentlich für die Lockerung des Abtreibungsgesetzes ist, zögert sie jetzt. Und sie braucht nicht auf die Unterstützung der frankophonen Schwesterpartei MR zu zählen. Die hat nämlich schon mitgeteilt, dass sie eine Abstimmung über die Reform nicht blockieren wird.
Ist die OpenVLD also bereit zu einer Kehrtwende, um die Arizona-Verhandlungen nicht zu torpedieren? Und wie wird die Basis darauf reagieren? Vielleicht ist die nämlich inzwischen genauso mürbe gemacht worden in puncto Regierungsbildung wie der Rest der Bevölkerung. Aber selbst, wenn es den Gegnern der Reform gelingt, die Abstimmung weiter hinauszuzögern, bedeutet das nicht, dass der Weg dann frei wäre. Jede Verschleppung wäre nämlich eine Niederlage für die Befürworter der Reform. Es sieht also nicht danach aus, als ob wir schnell eine föderale Regierung bekämen. Aber das ist ja nichts Neues, so resigniert Gazet van Antwerpen.
Ausgerechnet die N-VA…
Nachdem das Abtreibungsgesetz jahrelang von der CD&V blockiert worden war, fühlt sich jetzt also die N-VA dazu berufen, das Gewissen des Landes zu geben, frotzelt Het Belang van Limburg. Kaum war die Kammer nach vielen Debatten und Gutachten endlich so weit, stellen die flämischen Nationalisten plötzlich fest, dass die Beschlüsse alle überhastet, undurchdacht und uninformiert gewesen sein sollen. Und dass es in Flandern dafür keine Mehrheit gebe.
Dass ausgerechnet die Partei, die sich jahrzehntelang darüber beschwert hat, dass eine Minderheit der Mehrheit systematisch ihre Meinung aufzwingen will, jetzt eine Bombe unter die Regierungsbildung legt und das Parlament an seiner Arbeit hindern will, das zeugt davon, wie platt die Politik ist, stöhnt Het Belang van Limburg.
Schlechtes Straßentheater
Diesen Punkt greift auch La Libre Belgique auf: In einer Demokratie muss eine Mehrheit, so sie denn existiert, über Gesetze abstimmen dürfen. Das Parlament darf nicht verhöhnt, instrumentalisiert oder umgangen werden. Was die Belgier von ihren Politikern wollen, sind ein kohärentes und effizientes Management der Gesundheitskrise, einen Plan zur wirtschaftlichen Wiederbelebung und einen politischen Sinn für Verantwortung und das Allgemeinwohl, um endlich die Basis zur Bildung einer Regierung legen zu können.
Was sie stattdessen bekommen, ist schlechtes Straßentheater mit schlagenden Türen und Egotrips. Darunter leidet die Demokratie. Und Neuwahlen würden die bereits klaffenden Gräben zwischen Bürgern und Politikern nur noch vertiefen. Und dieses Mal erreichen wir vielleicht den Punkt, an dem es keine Umkehr mehr geben wird, mahnt La Libre Belgique.
Boris Schmidt