"10.000 Menschen demonstrieren in Brüssel gegen Rassismus", titeln De Morgen und Le Soir. "Aufschrei gegen Rassismus", so die Schlagzeile des GrenzEchos. "Sie müssen uns hören bis Minneapolis", zitiert De Standaard auf seiner Titelseite einige Teilnehmer an der Demo.
Allein in Brüssel sind gestern rund 10.000 Menschen auf die Straße gegangen, um gegen Rassismus und Polizeigewalt zu protestieren.
Die Initiative an sich stößt allgemein auf Zustimmung in den Zeitungen. "Es fehlt der Respekt vor dem Leben", meint etwa das GrenzEcho. Rassismus ist eine gefährliche Seuche, die sich hinter vielen Masken zu verstecken vermag. "Black Lives matter", dass "black" in dem Slogan enthalten sein muss, zeigt, wie weit wir von einer idealen Welt entfernt sind.
Für Le Soir scheint sich die Geschichte immer und immer zu wiederholen. Rassismus zieht sich durch die Jahrhunderte. Die Problematik konfrontiert uns ja auch schon mit unserer Kolonialvergangenheit. Die jungen Demonstranten mischen alles zusammen. Zu Recht allerdings: Der Sklavenhandel, der ja insbesondere den USA den Wohlstand brachte, die Kolonisierung, die den europäischen Aufstieg begünstigte, das heutige Nord-Süd-Gefälle, das alles hängt zusammen, und das alles nährt die Wut. Und, nicht vergessen: Wenn eine Gesellschaft ihre Geschichte vergisst, dann ist das auch ein Nährboden für Rassismus.
Anti-Rassismus-Kundgebungen mit Wermutstropfen
Dennoch: Da gibt es auch gleich zwei Wermutstropfen. Erstens: "Die Anti-Rassismus-Kundgebung wurde von Ausschreitungen überschattet", schreiben La Dernière Heure und De Standaard. Und, zweitens: Es war ein "Massenprotest ohne Abstand", wie es Het Belang van Limburg formuliert. Tatsächlich standen die Demonstranten dicht gedrängt; die Corona-Abstandsregeln waren nicht gewährleistet. "Die Initiative war sehr nobel, aber auch sehr gefährlich", schreibt denn auch Het Nieuwsblad. Het Laatste Nieuws ist präziser: "Das wird Menschen krank machen"; das zumindest ist die Warnung von Virologen.
All das sorgt für zum Teil wütende Kommentare. "Die Erinnerung an George Floyd wurde durch die Krawallmacher in den Schmutz gezogen", meint etwa La Dernière Heure. Dabei ist das Thema aktueller denn je. Die schrecklichen Bilder von der brutalen Polizeiaktion, die den Afroamerikaner das Leben kostete, haben weltweit für Erschütterung gesorgt. In Europa tritt der Rassismus nicht ganz so offen zutage wie in den USA. Was nicht heißt, dass es das Problem hier nicht gibt. In ganz Belgien haben insgesamt rund 15.000 Menschen eindrucksvoll gefordert, dass damit endlich Schluss sein muss. Und dann sorgen ein paar Dutzend Idioten dafür, dass die Initiative in ein falsches Licht gerät. "Meine Herren Unruhestifter: Sie haben das Andenken an George Floyd und andere Rassismus-Opfer in der Welt mit Füßen getreten!"
"Fatales Einschätzungsfehler"
"Brüssel verdient Besseres", meint auch La Libre Belgique. Das Blatt kommentiert aber in erster Linie die Tatsache, dass bei der Demo die Abstandsregeln nicht eingehalten wurden. Drei Monate lang haben wir uns den Ausgangsbeschränkungen gebeugt. Drei Monate lang haben die Kneipen und Restaurants keine Gäste empfangen dürfen. Drei Monate lang musste das Personal in den Krankenhäusern Sonderschichten schieben, um möglichst vielen Patienten helfen zu können. Und was sehen wir jetzt? 10.000 Menschen, die sich im Herzen der Hauptstadt versammeln. So lobenswert ihre Absichten auch sein mögen, aber wie konnte man eine solche Massenveranstaltung tolerieren? Wie soll man jetzt den Restaurant- und Kneipenbetreibern noch erklären, dass sie strikte Sicherheitsauflagen einzuhalten haben? Indem er grünes Licht für diese Demo erteilt hat, hat der Brüsseler Bürgermeister Philippe Close einen fatalen Einschätzungsfehler begangen!
L'Avenir schlägt in dieselbe Kerbe: Vier Tage, nachdem der Nationale Sicherheitsrat beschlossen hat, dass bis zum 1. August keine Kirmes stattfinden darf, vier Tage danach sehen wir das! 10.000 Menschen, die dicht gedrängt im Herzen von Brüssel stehen. Noble Absichten hin oder her, dass sie die Abstandsregeln nicht eingehalten haben, das kann sich als Katastrophe erweisen. Ein Tag wie gestern kann zum Startpunkt werden für eine zweite Krankheitswelle. Und das würde also die Anstrengungen, die die gesamte Bevölkerung auf sich genommen hat, mit einem Mal zunichte machen.
Jedem sein Leckerli
"Erschreckender Leichtsinn", so auch der Titel des Leitartikels von De Standaard. Das Blatt hat da aber etwas ganz anderes vor Augen, nämlich die Beschlüsse des sogenannten "Super-Kernkabinetts" vom vergangenen Samstag. Wieder hat sich herausgestellt, dass gewisse Maßnahmen schlichtweg nicht abgesprochen waren. Etwa der Beschluss, den Bürgern des Landes zehn Zugfahrten zu schenken. Die Bahnchefin wusste von nichts. Zudem ist es nicht unbedingt die schlaueste Idee, einen Ansturm auf die öffentlichen Verkehrsmittel zu riskieren; das Virus ist schließlich nicht weg.
Ein Beweis mehr dafür, dass die derzeitige Formel nicht mehr funktioniert, meint Het Nieuwsblad. Am Tisch des Super-Kernkabinetts sitzen zehn Parteien. Und es ist offensichtlich, dass jede Partei bzw. politische Familie "bedient" werden musste. Jeder wollte "seine" Maßnahme, sein Leckerli bekommen. Kohärent ist das nicht. Und so wird es auch nicht möglich sein, ein stimmiges Konjunkturpaket zu schnüren. Eine neue Regierung mit einer Mehrheit im Parlament ist mehr als überfällig.
Het Belang van Limburg sieht das genauso: Wir brauchen jetzt wirkliche politische Führung. Ohne eine vollwertige Regierung droht das Land in dieser beispiellosen Krise am Ende auf der falschen Seite der Geschichte zu stehen. Hoffentlich werden allen voran N-VA und PS das jetzt irgendwann begreifen...
Roger Pint