"Der Neustart", so die Aufmachergeschichte von L'Echo und De Tijd. "Fahrplan raus aus den Ausgangsbeschränkungen", schreibt Le Soir auf Seite eins. "Ausnahmezustand wird gelockert", titelt das GrenzEcho.
Nach mehr als sieben Stunden hat sich der Nationale Sicherheitsrat am Abend auf die Grundzüge der belgischen Exit-Strategie verständigt. Ab dem 4. Mai sollen die Ausgangsbeschränkungen also schrittweise gelockert werden. "Vorsichtig, progressiv und in mehreren Phasen wird der Exit sein", notiert L'Avenir.
"Hier der Exit-Kalender", so die Schlagzeile von La Libre Belgique. Und dieser Kalender, der besteht im Wesentlichen aus vier Eckdaten: Die erste Etappe beginnt gleich am 4. Mai. Dann werden die großen Unternehmen teilweise wieder hochgefahren. Eine Woche später sollen die Geschäfte wieder geöffnet werden. Am 18. Mai werden die Schulen unter strikten Bedingungen wiedereröffnet. Und nach dem 8. Juni soll über eine teilweise Wiedereröffnung der Restaurants nachgedacht werden.
Das alles immer unter der Voraussetzung, dass die "Corona-Zahlen" im grünen Bereich bleiben. Sobald die Epidemie droht, außer Kontrolle zu geraten, soll sofort die Handbremse gezogen werden. "Vorsichtige Schrittchen hin zu mehr Freiheit", so formuliert es denn auch Gazet van Antwerpen. "Es ist ein banges Experiment mit ein bisschen mehr Freiheit", schreibt De Standaard.
Noch immer keine Entscheidungen über ...
Einige Zeitungen bringen aber in ihren Titelzeilen auch schon eine gewisse Enttäuschung zum Ausdruck: "Familie und Freunde müssen warten", schreibt Het Nieuwsblad. Die Zeitung vermisst jedenfalls Entscheidungen, die es uns erlauben würden, auch wieder mehr soziale Kontakte zu pflegen.
Und auch Het Laatste Nieuws wirkt ungeduldig: "So lange warten und doch noch immer keine Entscheidungen über ...:", und dann folgt eine ganze Liste von Punkten, die nicht behandelt wurden. "So lange warten", das ist auch eine Anspielung auf den Ablauf der gestrigen Sitzung des Nationalen Sicherheitsrates. Die Pressekonferenz fand erst gegen 22 Uhr statt.
"Gleich schon wieder ein monumentaler Schnitzer!", kritisiert auch Gazet van Antwerpen. Das Timing war eine einzige Katastrophe. Es war jedenfalls kein feierlicher Moment, in dem die ganze Nation an den Lippen seiner politisch Verantwortlichen hängt, um zu wissen, wie ihre Zukunft aussehen wird. Kein Moment der Inspiration, kein Hochamt des Zusammengehörigkeitsgefühls. Nichts von alledem. Die Bürger, die noch nicht aufgegeben hatten, die bekamen quasi mitten in der Nacht erklärt, wie es jetzt weitergehen soll. Es mag so aussehen, als habe man auch in diesen außergewöhnlichen Zeiten immer noch die belgische Tradition hochhalten wollen, die der spannungsgeladenen Nachtsitzungen, die immer in die Verlängerung gehen, und deren Ergebnis in der Regel Klempnerarbeit und Flickwerk ist.
"Wie ist es möglich?", fragt sich auch vorwurfsvoll Le Soir. Eine Pressekonferenz um 22:00 Uhr, wenn's doch um so wichtige Infos geht. Und das ist keine Fußnote! Eigentlich müsste es doch im Interesse der Politik sein, dafür zu sorgen, dass sich möglichst viele Bürger hinter die Entscheidungen und Maßnahmen scharen, dass es eine größtmögliche Einmütigkeit gibt. Naja, beim nächsten Mal. Inhaltlich kann man aber sagen, dass die Dinge jetzt zumindest klar sind. Es gibt jetzt ein ausformuliertes Timing, eine Perspektive im Hinblick auf eine Lockerung der Ausgangsbeschränkungen.
Suche nach einem heiklen Gleichgewicht
Das Ganze kann man durchaus als ein Experiment bezeichnen, meint De Standaard. Die Lage ist ohne Beispiel. Da bleibt der Politik nichts anderes übrig, als Maßnahmen auszuprobieren. Und oft ist es ein Kompromiss zwischen der Not und der Angst. Aber immerhin hat man den Eindruck, dass das Ganze wohlüberlegt ist. Klar: An diesem Wochenende werden wir die Klagegesänge all jener hören, die mit den Maßnahmen unzufrieden sind. Dazu aber nur so viel: Die Regierung ist in einer wenig beneidenswerten Lage: Sie darf sich keinen Fehler erlauben. Und die Spielräume sind winzig.
Denn die Angst vor einer zweiten Krankheitswelle ist groß, scheint De Morgen einzuhaken. Und womöglich bewahrheitet sich dieses Szenario schneller, als es uns lieb wäre. Möglicherweise müssen wir noch lange leben mit einem zyklischen Wiederaufflammen der Krankheit. Diese Feststellung ist vielleicht nicht neu, aufbauender wird sie dadurch aber nicht. Der Zeitplan, der da gestern präsentiert wurde, der ist jedenfalls bislang nur Theorie. Die wichtigste Botschaft des gestrigen Abends lautet wohl: "Das Virus ist noch lange nicht weg".
Es ist und bleibt die Suche nach einem heiklen Gleichgewicht, meint De Tijd. Jederzeit besteht die Gefahr, dass wir die Lockerungen wieder zurückdrehen müssen. Die Regierung hätte dieses Risiko allerdings minimieren können, einen Teil der Vorbereitungen auf diesen Exit hat die Politik in den Sand gesetzt.
Le Soir wird konkreter: Gesichtsmasken sollen bei dieser Exit-Strategie eine entscheidende Rolle spielen. Die Regierung hat den Bürgern sogar kostenlose Masken versprochen. Nur gibt es nach wie vor nicht ausreichend Schutzmasken. Die Politik hat sich hier selber mit dem Rücken zu Wand gestellt.
"Anderthalbmeterabstandsgesellschaft"
Ab jetzt wird es aber auch auf uns ankommen, jeden von uns, mahnt Het Nieuwsblad. Schon beim Verhängen der Ausgangsbeschränkungen hatte die Regierung auf Bürgersinn gesetzt, darauf, dass die Menschen Verantwortungsbewusstsein an den Tag legen. Jetzt wird all das noch wichtiger. Jetzt hängt es von jedem Einzelnen ab, wie sich die Epidemie in den nächsten Tagen und Wochen entwickeln wird und davon, wie wir die Abstands- und Hygieneregeln befolgen. Bürgersinn kann man nicht verordnen. "Aber wollen wir wirklich am Ende den Rückwärtsgang einlegen müssen?", fragt herausfordernd Het Nieuwsblad.
L'Echo sieht das ähnlich. Die Politik hat eine vorsichtige, pragmatische und konstruktive Strategie ausgebrütet. Von den Regierungen erwarten wir jetzt ein hohes Maß an Wachsamkeit und Effizienz, um all das in gute Bahnen zu lenken. Doch auch wir sind gefragt. Jeder von uns muss seinen Beitrag leisten, damit die Regeln eingehalten werden können.
So langsam aber sicher dürfte uns wohl aufgehen, dass es eigentlich gar keinen wirklichen Exit aus der Corona-Krise gibt, meint nachdenklich Het Laatste Nieuws. Wir werden lernen müssen, mit diesem Virus zu leben. In einer, nennen wir es mal, "Anderthalbmeterabstandsgesellschaft". Ein Wort mit 35 Buchstaben, zu lang für ein Scrabble-Spiel. Dieses Unwort steht für das neue Normal. Physisch, aber wohl auch psychisch. Denn die Angst vor dem Virus wird uns auch misstrauischer machen unseren Mitmenschen gegenüber. Die Auswirkungen dieser Krise sind schlimmer als die eines Terroranschlags. Sanfter als Bomben, aber schädlicher für unseren Way of Life, unseren Lebensstil. Die, die uns regieren, werden vor allem Überzeugungskraft brauchen - und mehr davon als gestern Abend.
Roger Pint