"Erste einschränkende Maßnahmen in Belgien angesichts des Coronavirus", titelt heute L'Echo. Als wichtigste: Von Innenveranstaltungen mit mehr als 1.000 Besuchern wird abgeraten. Eine Empfehlung, kein Befehl. Das finden nicht alle gut.
"Coronavirus: Verwirrung à la belge", schreibt dementsprechend auch Le Soir. In ihrem Leitartikel kommt die Zeitung zu der Feststellung: Beim jetzigen Informationsstand scheint die Aktion der Behörden angemessen. Keine Schwarzmalerei, sondern eine Reihe von wichtigen, aber selektiven Verboten. Das Ziel ist deutlich: Die Ausbreitung verlangsamen, um so die Kapazitäten in den Krankenhäusern nicht zu gefährden. Management ohne Hysterie, mit gesundem Menschenverstand. Was Belgien ja generell auszeichnet.
Doch in diesem Land liegt das Beste gleich neben dem Schlimmsten. Gestern, anstelle einer einheitlichen Kommunikation mit den gleichen Maßnahmen zur gleichen Zeit für jeden, folgte mehrere Stunden lang Mitteilung auf Mitteilung, alles in größter Unklarheit. Ja, in Belgien ist die Empfehlung eines Verbots das einzige Vorrecht der Regierungschefin. Die Entscheidung zum Verbot obliegt den Bürgermeistern in Absprache mit den Regionen und Provinzgouverneuren.
Aber wie ist es möglich, dass selbst dann, wenn das Leben der Menschen bedroht ist, man nicht koordiniert und einheitlich agiert? Weil das Institutionelle Vorrang hat vor dem Menschlichen. Das liegt nicht an der Person Sophie Wilmès, sondern an der Struktur des Landes und der Angst vor jeglichem Kompetenzkonflikt.
Hoffen auf das Pflichtgefühl des Einzelnen
Den Kurs der Regierung kann man verteidigen, findet De Morgen. Sie versucht, das Risiko eines zusätzlichen Schadens durch Panik und unkontrollierbares Gruppenverhalten zu vermeiden. Gleichzeitig ist man flexibel genug, um gegebenenfalls einen Gang höher zu schalten.
Das beseitigt aber trotzdem nicht einige ernste Fragen, die man sich stellen kann. Die Entscheidung, von Großveranstaltungen "abzuraten", verwundert. Damit wird eine große Verantwortung auf den organisierenden Bürger abgewälzt. Schulfest abblasen – oder nicht? Ist das klug, solch ein Dilemma dem Bürger zuzuschieben? Wäre ein zeitweises Verbot denn nicht klarer gewesen? Und warum erst ab 1.000 Teilnehmern? Ist ein Skat-Nachmittag für Senioren nicht riskanter als ein Betriebsfest?
La Libre Belgique sieht das ähnlich: Weltweit haben die politisch Verantwortlichen der betroffenen Länder Maßnahmen getroffen, dem Ernst der Lage entsprechend, und angemessene Anweisungen erteilt. Angesichts der extremen Zerstückelung der Zuständigkeiten in Belgien hatte man zumindest gehofft, dass die Maßnahmen hierzulande kohärent und koordiniert sind.
Doch das war schon wieder zu viel verlangt von den belgischen politisch Unverantwortlichen. Kaum hatte die Premierministerin den Bürgermeistern empfohlen, Versammlungen mit über 1.000 Personen zu verbieten, verkündete der Bürgermeister von Antwerpen, Bart De Wever, dass er sich dieser Anweisung nicht beugen werde – unter dem Vorwand, dass sie von lediglich einer Autorität komme. Er würde sich dem nur unterwerfen, wenn es einen Entschädigungsfonds gebe. Was für eine Gewissenlosigkeit!
Aber auch die Frankophonen zeigen, zu welcher Kakophonie dieses Land in der Lage ist: Die Wallonie verbietet Altenheim-Besuche, Brüssel erlaubt sie in gewissen Fällen. Wie soll man unter diesen Umständen von den belgischen Bürgern verlangen, die notwendigen Schutz- und Vorsichtsmaßnahmen zu respektieren? Man kann nur hoffen, dass das Pflichtgefühl jedes Einzelnen trotz alledem die Oberhand behält.
Ein Nationaler Sicherheitsrat mit Marschbefehl reicht nicht
L'Echo blickt auf die wirtschaftlichen Folgen: Das Virus hat nicht nur eine gesundheitliche Krise ausgelöst, es ist mehr als das. Es ist schlicht und ergreifend eine Krise. Wie tiefgreifend sie sein wird, ist noch nicht bekannt, aber die Aussicht auf eine Rezession in Belgien klingt an. Aber was machen wir jetzt? Abgesehen von Übergangsmaßnahmen hat eine Minderheitsregierung nicht die Möglichkeit, die Maschine wieder anzukurbeln.
Das Land hat mehr nötig als einen Nationalen Sicherheitsrat mit Marschbefehl. Es braucht einen richtigen politischen Motor, eine legitime Regierung, aktiv angesichts der Dringlichkeit und sowieso. Nennen Sie es zutiefst naiv, aber dieses Land braucht eine föderale Mehrheit.
Es ist der Mühe wert!
De Standaard geht noch einen Schritt weiter: Das Coronavirus stellt unser Zusammenleben vor die Notwendigkeit, eine weitreichende Disziplin aufzubringen. Eine Form blinden Gehorsams, die wir in Friedenszeiten noch nie gesehen haben. Tag für Tag werden die getroffenen Maßnahmen und Empfehlungen durchgreifender und zwingender. Die Folgen reichen weiter als ein paar Quartale mit sinkendem Wirtschaftswachstum. Das Zusammenleben selbst wird einem tiefgehenden Test unterworfen.
Es ist von allergrößter Wichtigkeit, dass jeder von uns einsieht, dass wir jedes Mal, wenn wir das Risiko einer Ansteckung verringern oder gar ausschalten, einen reellen Einfluss haben auf die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus in der Bevölkerung verbreitet. Diese Verbreitung zu verlangsamen, ist unabdingbar, um dem Zusammenbruch unseres Gesundheitssystems zuvorzukommen. Jede nicht geschüttelte Hand, jeder vermiedene Kuss, jeder unterdrückte Hustenanfall, jedes gründliche Händewaschen kann den Beginn einer neuen Vermehrung der Infektionen verhindern. Es ist der Mühe wert, sich damit zu beschäftigen.
Volker Krings