"20 Jahre Karneval in Louvain-La-Neuve", notiert L'Avenir auf Seite eins. "Karnevalsprinz Yvan hält drei Tage lang sein Herz fest", schreibt Het Nieuwsblad auf seiner Titelseite. "Flotte Sohle, Eifler Danzfööss begeistern in ihrer ersten Session", titelt das GrenzEcho.
Der Karneval hat die belgische Presse zwar nicht in seinem Griff, aber neben den Notizen auf einigen Titelseiten ist er zentrales Thema in den Leitartikeln. Anlass dazu ist der Karneval in Aalst. Dort sollen am Sonntag wieder beim traditionellen Umzug Karikaturen von Juden gezeigt werden, die an die Nazi-Propaganda der 1930er Jahre erinnern.
Le Soir regt sich darüber auf und erklärt: Es gibt zwei Arten, mit anderen Menschen zu kommunizieren. Erstens mit der Absicht, den anderen fertig zu machen. Zweitens mit dem Willen, den anderen zu fördern. In Aalst setzen Karnevalisten und Politiker alles daran, Ersteres zu tun. Aalst wird am Sonntag nicht wie die Hüterin eines traditionellen Festes mit Wurzeln im Mittelalter betrachtet werden, sondern wie die Hauptstadt des Antisemitismus. Das ist natürlich grotesk und wird den Einwohnern nicht gerecht. Schuld daran sind die Organisatoren des Karnevals und der Bürgermeister, die nichts dagegen tun, um die kontroversen Juden-Karikaturen zu unterlassen. Darstellungen, die klar antisemitisch sind, da gibt es nichts zu diskutieren, schimpft Le Soir.
Bemitleidenswerte Besserwisser
Auch De Standaard ist klar in seinem Urteil und notiert: Der Karnevalsverein Vismooil'n, dem der umstrittene Juden-Wagen gehört, und seine Verteidiger verstoßen gegen die erste Regel des Humors, um den es im Karneval geht: ein Witz, den man erst kompliziert erklären muss, ist ein schlechter Witz. Wer versucht, so einen Witz weiter zu erklären, nachdem schon allen anderen das Lachen vergangen ist, ist kein Verfechter der Meinungsfreiheit mehr, sondern nur ein bemitleidenswerter Besserwisser. In Aalst stellen sich weiter alle dumm. Der Schaden für den Karneval, die Stadt und Flandern ist nicht zu übersehen, ärgert sich De Standaard.
Anders De Tijd: Vor fünf Jahren, nach den Anschlägen auf die französische Satirezeitschrift Charlie Hebdo, waren wir alle Charlie. Es war Konsens auch bei uns, dass die Meinungsfreiheit ein hohes Gut ist - auch wenn sie manchmal die Grenzen des guten Geschmacks überschreitet. Die Bedenken, die die vom Spott Getroffenen äußern, müssen ernst genommen werden. Aber deshalb den Spott zu verbieten, wäre nicht richtig. Die Gesellschaft in einer Demokratie wie unserer muss so etwas aushalten können. Außerdem ist niemand verpflichtet, über den Spott beim Karneval in Aalst zu lachen, hält De Tijd fest.
Für La Dernière Heure ist alles ganz einfach. Das Blatt erinnert: Letztes Jahr wurde mit den Juden-Karikaturen eine Grenze überschritten. Der Aufschrei war groß, Rassismus und Judenfeindlichkeit wurde den Karnevalisten vorgeworfen. Heißt das deshalb, dass alle Karnevalisten in Aalst Nazis sind? Natürlich nicht. Einen schlechten Wagen mit einem Witz, der nicht zieht, muss man einfach das nächste Mal weglassen. Dann kann man wieder unbeschwert feiern, meint La Dernière Heure.
Viel Geld - wer darf entscheiden?
L'Avenir kommentiert zum EU-Sondergipfel, der am Freitagabend ohne Einigung zu Ende gegangen ist und findet: Bei dieser komplizierten Marathon-Sitzung, bei der es um den EU-Haushalt in den kommenden sieben Jahren ging, wird sich Charles Michel fast wie zuhause gefühlt haben. Solche endlosen Sitzungen mit schier unvereinbaren Positionen der Teilnehmer sind unserem Ex-Premier aus der belgischen Politik ja bestens bekannt. Dabei geht es diesmal um viel. Die EU-Mitgliedstaaten müssen den Austritt von Großbritannien verkraften. Auch finanziell. Es wäre gut, wenn sich die Staats- und Regierungschefs auf einen ambitionierten Haushalt einigen würden. Die EU muss jetzt zeigen, dass sie stark ist und die Herausforderungen der Zukunft annimmt, meint L'Avenir.
Het Laatste Nieuws schreibt zum gleichen Thema: Belgien soll nach jetzigem Stand der Dinge 1,2 Milliarden Euro pro Jahr mehr als schon bislang bezahlen. Premierministerin Sophie Wilmès, die Belgien bei den Verhandlungen vertritt, will das auch akzeptieren. Zusätzliche Schwierigkeiten will sie ihrem ehemaligen Chef Charles Michel nicht machen. 1,2 Milliarden Euro, das ist viel Geld und vielleicht auch der Preis, den man dafür bezahlen muss, zu einer der führenden Nationen der EU zählen zu wollen. Die Frage ist allerdings, ob Wilmès als lediglich geschäftsführende Premierministerin über so viel Geld bestimmen sollte. Zumal in einer Lage, wo der nationale Haushalt sowieso schon aus dem Ruder läuft, bemerkt Het Laatste Nieuws.
Die Geschichte wiederholt sich
La Libre Belgique zeigt sich schockiert über das Attentat von Hanau und fragt bestürzt: Wie konnte es dazu kommen? Rassismus ist wahrscheinlich der Hintergrund der Tat. Ein Rassismus, der immer mehr an Boden gewinnt. Unsere westlichen Gesellschaften sind zunehmend von Orientierungslosigkeit geprägt. Sicher geglaubte Werte werden infrage gestellt. Auf den Sozialen Netzwerken darf man sagen, was man will. Hass wird geschürt und rechtsextreme Parteien nutzen das aus. Auch Verschwörungstheorien gegen die gesellschaftliche Ordnung finden immer mehr Zulauf. Rassismus wird wieder salonfähig in Deutschland und anderswo.
Man hatte geglaubt, Europa sei geimpft gegen diese Krankheit. Aber dieser Glaube war falsch. Die Vergangenheit kann zurückkommen. Die Geschichte kann sich wiederholen, stellt La Libre Belgique bestürzt fest.
Kay Wagner
De Tijd hat schon recht. Nach den Attentaten auf Charlie Hebdo sagten alle "je suis Charlie". Alle Welt sang das Hohelied der Meinungsfreiheit. Und jetzt ?
In einem freien Land wie Belgien darf es keine Zensur geben. Denn wenn man einmal anfängt, kommen auch noch andere.
Das beste ist, diesen Provokateurendie Show zu stehlen mit einem anderen besseren Wagen. Da gibt es bestimmt Möglichkeiten. Denn wenn kein Mensch sich mehr für diese antisemitische Provokation interessiert, hört der Spuk normalerweise von allein auf.
Ausserdem ist niemand gezwungen, dorthin zu gehen.
Werter Herr Scholzen,
haben Sie schon einmal daran gedacht das man Rassismus, Antisemitismus und Faschismus gesellschaftsfähig macht indem man die "Argumentation" dieser Leute übernimmt und mit Rede- und Meinungsfreiheit entschuldigt.
Die Tatsache das viel zu lange geschwiegen und weggesehen wurde hat Taten wie in Halle und Hanau erst ermöglicht.
Bilder wie die, dem Stürmer entnommenen, klischeehaften Darstellungen "des Juden" brauchen wir nicht .
Die "Vereinnahmung" des Karnevalsbrauchtums durch die Nazis begann genau mit solchen Wagen.
Werter Herr Gebser.
Ein Verbot dieses antisemitischen Wagens würde nicht viel bringen. Ob überhaupt rechtlich möglich, weiß ich nicht. Bei einem Verbot kämen bestimmt andere gesellschaftliche Gruppen (zB Buddhisten, Veganer, etc) über die man sich auch lustig macht auf dem Karneval, und würden auch ein Verbot fordern. Dann kämen noch andere. Und schlussendlich wäre nichts mehr erlaubt. Aus Freiheit würde Unfreiheit. Das will bestimmt niemand.
Antisemitismus kann man nicht ausschließlich durch Verbote bekämpfen. Da muss man viel tiefer gehen, an die Wurzel des Übels. Da braucht man eine ausgefeilte Strategie. Vielleicht kennen Sie eine ? Aber selbst beim besten Bemühen wird es immer Personen mit antisemitischer Einstellung geben. Die beste Versicherung gegen Extremismus von links und rechts ist eine starke glaubwürdige Demokratie.