"Ursula von der Leyen mit Hängen und Würgen", titelt De Standaard. Das GrenzEcho schreibt: "Zittersieg für Ursula von der Leyen". Und "Neue EU-Chefin hat es knapp geschafft", so die Schlagzeile bei De Morgen.
Viele belgische Tageszeitungen kommentieren am Mittwoch die Wahl Ursula von der Leyens zur EU-Kommissionschefin. Mit 383 Stimmen holte sie im Europäischen Parlament gerade mal neun Stimmen mehr als nötig. La Libre Belgique findet: Immerhin 327 europäische Abgeordnete haben gegen sie gestimmt. Das ist enorm. Das heißt, die Legitimität der ersten Frau an der Spitze der Kommission ist zerbrechlich.
In den Augen derjenigen, die eine Demokratisierung der europäischen Politik fordern, kann sich die deutsche Konservative nur schwer von dem Etikett einer von den Staats- und Regierungschefs irgendwie aus dem Hut gezauberten Kandidatin lösen. Diese hätten einen der Spitzenkandidaten vorgezogen, die sich auf diesen Posten beworben haben. Die in letzter Minute aufgerufene Deutsche hatte keine Zeit innerhalb von zwei Wochen aus dem Stand einen Zeitplan für die Kommission zu entwerfen. Deshalb auch diese knappe Wahl.
Die Wahl Ursula von der Leyens war eine Wette. Das Parlament hat diese angenommen, ohne Begeisterung. Mit ihren Ambitionen, ihrer Entschlossenheit, und ihrem politischen Gespür muss die künftige Kommissionspräsidentin in den kommenden Monaten und Jahren ihre Position festigen. Es ist im Interesse aller, auch der Pro-Europäer, die gegen sie gestimmt haben, dass ihr das gelingt, hofft La Libre Belgique.
Von der Leyen ist Macrons Wahl
Die Wirtschaftszeitung L'Echo sieht für das knappe Ergebnis zwei Gründe. Zum einen liegt das an der Zersplitterung der traditionellen politischen Familien und einer Abkehr von Europa. Die Christdemokraten behalten die höchste Funktion in der EU, können aber ohne Einwilligung der Liberalen nichts machen. Die Sozialisten sind de facto zum zweitrangigen Partner dieser Dreier-Koalition herabgestuft worden. Die Grünen sind aus dieser Großen Koalition ausgeschlossen, da die neue Präsidentin auch ohne sie auf der grünen Welle surft.
Das schwache Resultat liegt aber auch an der Art und Weise, wie die Kandidatur entstanden ist. Ursula von der Leyen ist vor allem die Wahl von Emmanuel Macron. Im Einverständnis mit der deutschen Kanzlerin Angela Merkel gerät damit der französische Präsident in den Vordergrund. Frankreich hat Europas Zügel in der Hand, stellt L'Echo fest.
De Standaard notiert: Wieder einmal haben wir gesehen, wie Europa funktioniert und trotz allem weiterhin funktionieren wird - mit vollendeten Tatsachen. Die politische Absprache über die Ernennung der Top-Jobs wurden dem Parlament reingewürgt. Unterm Strich aber fanden die großen Fraktionen sie ausreichend, um ihren Frust runter zu schlucken und nicht für das institutionelle Chaos zu stimmen. Als nicht nur Ursula von der Leyens Parteigenosse Manfred Weber sondern auch die zwei anderen ausgebooteten Spitzenkandidaten Frans Timmermanns und Margrethe Vestager ihre Unterstützung zusagten, waren die Würfel gefallen.
Das dargebotene Spektakel wird wenige Europäer überzeugt haben, dass die europäischen Führer ihre Botschaft gehört und begriffen haben. Es gibt anscheinend keine realistische Alternative zur mühseligen Plackerei, die den europäischen Entscheidungen vorausgeht. Mit diesem Europa müssen wir klarkommen, ein anderes gibt es nicht.
Große Ambitionen
Het Nieuwsblad blickt auf die Pläne von der Leyens. Wenn von der Leyen es mit ihrer gestrigen Rede im EU-Parlament ernst meint, dann werden sie und der EU-Ratsvorsitzende Charles Michel eine volle Agenda haben. Die neue Kommissionspräsidentin hat große Ambitionen bei den Themen Klima, Asylpolitik und Soziale Sicherheit; drei entscheidende Bereiche, in denen die EU den Unterschied ausmachen kann. Klima und Asyl sind die Herausforderungen par excellence. Wenn von der Leyen darin Erfolg hat, dann steuert sie die Union in die gute Richtung. Aber nur, wenn es mehr ist als Lippenbekenntnisse, um Stimmen zu sammeln.
Über diesen großen Ambitionen liegt allerdings ein Schatten, und das sind die Spannungen zwischen Ost und West innerhalb der EU. Und die scheinen unter der neuen Kommissionsvorsitzenden eher zuzunehmen. Zum einen, weil keiner der fünf europäischen Top-Jobs an jemanden aus Osteuropa gegangen ist. Aber auch, weil von der Leyen in den kommenden Jahren große Schritte bei der europäischen Integration machen will. Eine Idee, bei der Osteuropa sehr empfindlich ist und die die Kluft noch größer zu machen droht, befürchtet Het Nieuwsblad.
Gute Mischung
De Tijd analysiert: Von der Leyen zeigte sich in ihrer Bewerbungsrede standhaft in ihrer Überzeugung. Sie warnte die osteuropäischen Länder, dass die EU in Sachen Respekt vor dem Rechtsstaat keine Kompromisse duldet. Und sie betonte das moralische Erbe, auf das die EU aufgebaut ist, indem sie auf Simone Veil verwies, die Französin, die Auschwitz überlebte und vor 40 Jahren Vorsitzende des allerersten Europäischen Parlaments wurde.
Selbstverständlich sind das alles nur Ambitionen. Der Teufel sitzt im Detail und es kann noch viel schief gehen. Aber von der Leyens informelle Regierungserklärung war eine gute Mischung aus Sachlichkeit, einem klaren moralischen Kompass und berechtigtem Ehrgeiz, findet De Tijd.
Volker Krings