"Game over", titelt Le Soir. "Charles Michel gibt auf", schreibt La Libre Belgique auf Seite eins. "Gepokert und verloren", so die Schlagzeile bei Gazet van Antwerpen.
Premierminister Charles Michel hat gestern Abend bei König Philippe seinen Rücktritt eingereicht. Zuvor hatte Michel vergeblich in der Kammer versucht, die linke Opposition durch politische Zugeständnisse zur Unterstützung seiner Regierung zu bewegen. Nachdem bekannt wurde, dass Sozialisten, Grüne und Kommunisten einen Misstrauensantrag gegen die Regierung stellen wollten, kündigte Michel seinen Rücktritt an und fuhr zum König.
Die Wirtschaftszeitung L'Echo kommentiert: Michel hat alles versucht. Und das mit einer Kreativität, die man noch nie in der belgischen Politik gesehen hat. Zum Schluss hat er auch vor Opportunismus nicht Halt gemacht und öffnete sich deutlich nach links.
Alles hat nichts genützt. Regieren heißt: Die öffentlichen Angelegenheiten zu verwalten und vorausschauend zu handeln. Zu beidem war Michel nicht mehr in der Lage. Sein Schritt ist deshalb logisch, resümiert L'Echo.
Besseres verdient
La Libre Belgique sieht das genauso und führt aus: Nachdem die Nationalisten dem Premier ihre Unterstützung entzogen hatten und die Opposition gestern die ausgestreckte Hand nicht ergreifen wollte, hatte Michel keine andere Wahl mehr, als zum König zu gehen. Der hat noch nicht entschieden, wie es weitergeht.
Es wird nicht leicht sein, die nahe Zukunft zu gestalten. Aber ein politisches Chaos wird es nicht geben. Eher eine Art Koma. Dem Bürger wird dabei ein trauriges Schauspiel geboten, bei dem die Politik ihre parteipolitischen Interessen über die Interessen der Bürger stellt. Für die nächsten Föderalwahlen bedeutet das nichts Gutes: Die Extremen links und rechts werden zulegen und das Land wahrscheinlich unregierbar werden. Die Belgier haben Besseres verdient, bedauert La Libre Belgique.
Auch Le Soir findet: Belgien befindet sich in einer unverantwortlichen Lage. In einer Zeit, in der extreme Parteien überall in Europa die Demokratien bedrohen, haben die belgischen Politiker nichts Besseres zu tun, als dieses jämmerliche Theater aufzuführen, dem wir gerade beiwohnen. Charles Michel selbst spielt darin eine Hauptrolle. Sicher, er ist Opfer der N-VA geworden. Aber dann hat er den Wendehals gespielt: Wie er sich gestern der linken Opposition gleichsam anbiederte, lässt jegliches Vertrauen in politische Versprechungen schwinden.
Wofür Michel eigentlich steht, ist keinem mehr klar. Nur, dass er auf Teufel komm raus an der Macht bleiben wollte, konstatiert Le Soir.
Für Belgien brechen dunkle Zeiten an
L'Avenir hält fest: Michel ist letztlich über einen Nebenschauplatz der Migrationspolitik gestolpert. Diese Migrationspolitik hat vier Jahre lang die Regierungsarbeit belastet. Die Oppositionsparteien wollten ihre Trophäe und haben das Angebot des Premierministers gestern ausgeschlagen.
Letztlich ist alles die logische Konsequenz für eine Zusammenarbeit mit einer nationalistischen Partei, die nie damit aufgehört hat, mit der Politik von extrem Rechts zu flirten, weiß L'Avenir.
De Morgen erinnert: Der Fall der Regierung trägt zwar das Datum vom 18. Dezember, aber er begann eigentlich schon nach den Gemeinderatswahlen. Durch die starken Zugewinne des Vlaams Belang musste sich die N-VA beim Thema Migration deutlicher profilieren. Da auch die MR Verluste einfuhr, musste auch Michel sein Profil schärfen.
Diese Polarisierung der politischen Lager wird für einen spannenden Wahlkampf sorgen, eine neue Regierungsbildung wird dadurch jedoch schwerer. Für Belgien brechen dunkle Zeiten an, befürchte De Morgen.
De Standaard meint: Die ganze Krise hat gezeigt, dass das Thema "Identität" jetzt auch Belgien spaltet. Das bedeutet nichts Gutes. Denn der Blick in andere Länder zeigt, dass dadurch die Vernunft aus der Politik verschwindet. Die N-VA ist bei uns ein gutes Beispiel dafür.
Dem Thema Migration hat die N-VA letztlich alle anderen Ziele ihrer Politik geopfert. Anstatt die neuen Gesetze, an denen sie mitgearbeitet hat, mit zu verabschieden, zog sie es vor, wegen des UN-Migrationspakts die aktuelle Krise auszulösen, analysiert De Standaard.
Neuauslotung der Grenzen der Regierbarkeit?
De Tijd bemerkt: Für die Mitte-Rechts-Parteien ist das alles ein Desaster. Die erste Föderalregierung, die seit 1988 ohne die PS auskommt, schafft es nicht, ihr eigenes Werk abzuschließen: keine Definition der "schweren Berufe", keine Rentenreform, kein Mobilitätsbudget und kein Arbeitsdeal.
Nach den 194 Tagen Blockade 2007, den 541 Tagen des politischen Stillstands 2010 und 2011 und der noch nie dagewesenen Regierung ohne frankophone Mehrheit seit 2014 drohen wir erneut, die Grenzen der Regierbarkeit Belgiens neu auszuloten, hält De Tijd fest.
Het Laatste Nieuws ist sich allerdings sicher: Angst braucht man vor der Zukunft nicht zu haben. Die Belgier wissen, wie sie ohne Föderalregierung leben können. Das haben sie in der Vergangenheit ja auch trainiert.
Trotzdem wären Neuwahlen jetzt das Beste. Trotz aller Ängste, Bedenken und Einwände, die jetzt dagegen geäußert werden. Denn Neuwahlen innerhalb der nächsten 40 Tage sind die demokratische Logik der aktuellen Krise, findet Het Laatste Nieuws.
Kay Wagner