"Ich gehe nach Marrakesch", titeln Het Belang van Limburg und L'Echo. Das ist ein Zitat von Premierminister Charles Michel. Der hat sich am Abend vor die Presse gestellt und dabei die Flucht nach vorn angetreten. Quintessenz: Michel will das Parlament darüber entscheiden lassen, ob Belgien den UN-Migrationspakt unterzeichnet.
Dabei nehme er ausdrücklich eine Wechselmehrheit in Kauf: Sollte die N-VA wie angekündigt gegen den Pakt stimmen, dann holt man sich eben die Unterstützung der Opposition. Zwischen den Zeilen steht hier: Die N-VA muss dann für sich entscheiden, welche Konsequenzen sie daraus zieht.
"Michel setzt die N-VA unter Druck", so denn auch die Schlagzeile von De Tijd. Het Laatste Nieuws ist drastischer: "De Wever steht mit dem Rücken zur Wand". "Was nun, Bart De Wever?", wendet sich De Standaard an den N-VA-Vorsitzenden.
Für einige Zeitungen ist der Ausgang der Geschichte indes schon klar: "Michel drängt die N-VA zum Ausgang", so formulieren es Le Soir und das GrenzEcho. Resultat jedenfalls: "Die 'Schwedische Koalition' ist klinisch tot", so die erbarmungslose Diagnose von La Libre Belgique. Wütende Schlagzeile sogar auf Seite eins von Het Nieuwsblad: "Macht dem Ganzen jetzt ein Ende!", fordert das Blatt.
Die N-VA bettelt förmlich um den Schwarzen Peter
In einem Punkt sind sich alle Blätter einig: Es war die N-VA selbst, die diese Zuspitzung herbeigeführt hat. Dienstag Nachmittag, als Premier Michel noch nach einem Ausweg aus der Krise suchte, lancierte die N-VA schon in sozialen Netzwerken eine Kampagne gegen den UN-Migrationspakt. Gespickt mit drastischen Fotos und inhaltlich höchst zweifelhaften Aussagen erklärte die Partei, warum sie den Pakt für so schädlich hält.
Es folgte ein Sturm der Entrüstung; auch innerhalb der N-VA konnten sich längst nicht alle mit der Kampagne identifizieren. "Skandalös, unwürdig, inakzeptabel", so fasst Het Laatste Nieuws die Reaktionen zusammen. Am Ende wurde die Kampagne entschärft und N-VA-Chef Bart De Wever entschuldigte sich höchstpersönlich.
Da war es aber schon zu spät. "Die N-VA bettelt förmlich um den Schwarzen Peter", so die beißende Analyse von De Standaard. "Die Meisterstrategen machen einen kapitalen Fehler in einem entscheidenden Moment", urteilt auch Het Nieuwsblad.
Die N-VA hat dem Premierminister selbst die Munitionen geliefert, analysiert sinngemäß De Standaard. Ohne die umstrittene Kampagne hätte Charles Michel nicht den Ball ins Parlament spielen können. Die N-VA-Spitze hat zu spät erkannt, dass sie mit diesem ultimativen Affront dem Premier die Chance gegeben hat, die Kräfteverhältnisse umzudrehen.
Michel hat richtig erkannt, dass sich die N-VA isoliert hat und dass auch sie bestimmt kein Interesse an Neuwahlen hat, meint De Standaard.
Der "Nieuw-Vlaams Belang"
"Endlich!", lobt Le Soir den Regierungschef. Endlich wird die N-VA von Charles Michel einmal zurechtgewiesen. Wie viele Kröten haben die Nationalisten den Premierminister schlucken lassen? Gestern hat die N-VA aber den Bogen überspannt. Michel konnte unmöglich am Gängelband einer Partei bleiben, die eine Kampagne führte, die sich einer rechtsradikalen Bildersprache bediente und die schamlos Lügen in die Welt setzte.
Die Frage ist allerdings, ob sich Michel nicht zu spät von dem schwierigen Koalitionspartner N-VA distanziert. Für einige Leitartikler sind derweil die Masken gefallen.
Die N-VA wollte alles anders, alles besser machen, stellt etwa Het Laatste Nieuws fest, in allen Belangen: sozial, wirtschaftlich, gemeinschaftspoltitisch und gesellschaftlich. Seit einigen Tagen verhält sich die N-VA aber wie eine "Ein-Thema-Partei": Anti-Einwanderung, genauer gesagt, anti-Islam.
So eine Partei haben wir allerdings schon. Und die heißt Vlaams Belang. Die N-VA steht jedenfalls jetzt da mit der Hose auf den Fußgelenken, entlarvt als eine Partei, die plötzlich nicht mehr die ist, für die 32 Prozent der Flamen gestimmt haben, sondern rechter als rechts, so Het Laatste Nieuws.
Het Belang van Limburg ist noch direkter. Das politische Belgien ist um eine Partei reicher: den N-VB, den Nieuw-Vlaams Belang. Die N-VA hat gestern ein Register gezogen, das bislang nur Rechtsextremisten benutzt haben, unter anderem ein Foto, das auch schon die deutsche AfD gebraucht hat.
Die Kampagne erwies sich als Rohrkrepierer. Dieser schwere Betriebsunfall zeigt, dass die N-VA in ihrem Drang, eine Volkspartei werden zu wollen, an Grenzen gestoßen ist. Und der rechtsextreme Vlaams Belang spielt genüsslich die Rolle des Jagdhunds.
Dreckige Krise
De Morgen bemüht eine ähnliche Metapher. Hier wedelt der Schwanz mit dem Hund. Der Hund, das ist die N-VA, der Schwanz, das ist der Vlaams Belang. Die gestrige Kampagne hat gezeigt, wozu die N-VA offensichtlich bereit und im Stande ist, nämlich Lügen und Unwahrheiten zu verbreiten. Und notfalls sogar stigmatisierende, Angst einflößende, fremdenfeindliche Bilder zu verwenden.
Dabei hatte Bart De Wever bislang doch den Kampf gegen Extremrechts als persönliche Mission betrachtet. Nach dem ersten elektoralen Rückschlag wird man dann in Panik plötzlich zu einer blassen Kopie. Frage ist im Übrigen, ob man nicht, indem man den rechten Rand hofiert, am Ende die Mitte verliert.
Vielleicht geht man ja davon aus, dass die Mitte auch schon nach rechts gerückt ist, hakt Het Nieuwsblad ein. Der Panikfußball der letzten Tage zeigt aber, dass die N-VA hier einen wackligen Balanceakt vollzieht.
Es ist eine dreckige Krise, so das Fazit von La Libre Belgique. Der Widerstand der N-VA gegen den Migrationspakt kommt reichlich spät. Im Verlauf der zweijährigen Verhandlungen hatte es bislang keinen einzigen Misston gegeben. Es ist offensichtlich, dass die N-VA nach ihrem durchwachsenen Ergebnis vom 14. Oktober in den Gewässern des Vlaams Belang fischen will.
Charles Michel musste auf die schmutzige Kampagne reagieren. Er wahrt sein Gesicht und rettet die Ehre. Das allerdings beschert uns jetzt eine Regierungskrise. Diese Krise ist unnötig, nutzlos und zudem vermeidbar. Wichtig ist doch im Moment nicht das Thema Identität, sondern die Bereiche Soziales, Wirtschaft und Klimaschutz.
Diejenigen, die jetzt die Krise provozieren, bringen die Zukunft der Bürger dieses Landes in Gefahr. Das ist aber wohl die kleinste ihrer Sorgen.
rop/jp