"CDH löst politisches Erdbeben aus", titelt das GrenzEcho. "PS nach 30 Jahren aus dem Spiel", so die Schlagzeile von Het Belang van Limburg. Und De Standaard schreibt auf Seite eins: "Sprung ins Ungewisse".
CDH-Präsident Benoît Lutgen hatte gestern völlig überraschend angekündigt, aus den Regierungsmehrheiten mit der PS auszutreten. Das gilt sowohl in der Wallonie, als auch in Brüssel und in der Französischen Gemeinschaft. Das Thema beherrscht die Titelseiten und die Kommentarspalten der Zeitungen.
L'Avenir fragt sich: War das jetzt eine riskante Entscheidung der CDH? Ja und nein. Denn es ist noch nicht klar, wie es jetzt politisch weitergehen kann im frankophonen Landesteil. Aber man muss auch sehen: Die CDH hat in der Gunst der Wähler immer mehr verloren. Nur noch knapp zehn Prozent der Wallonen würden der CDH ihre Stimme geben.
Das mag die eigentliche Motivation für den gestrigen Schritt gewesen sein: sich sichtbar zu machen und ein eigenes Profil zu zeigen, zwei Jahre vor den nächsten Regionalwahlen. Mehr als eine reine Wahltaktik war das auch eine Frage des Überlebens, analysiert L'Avenir.
Risikoreiche Flucht nach vorn
So sieht es auch die Wirtschaftszeitung L'Echo und schreibt: Benoît Lutgen ist Präsident einer Partei, die vom Untergang bedroht ist. Jetzt wählte er die Flucht nach vorn. Zwei Jahre vor dem natürlichen Ende der Koalition verlässt er sie und hofft dadurch, die Haut seiner Partei zu retten. Das ist zwar nicht sehr glorreich, könnte aber funktionieren. Die politische Unsicherheit, die daraus entsteht, ist allerdings katastrophal für das Wirtschaftsleben in der Wallonie, meint L'Echo.
Ähnlich sieht das Le Soir und erinnert an die Vergangenheit: Im April 2010 hatte Alexander De Croo auf Föderalebene die Regierung Leterme verlassen und dadurch das Land in eine Zeit von 541 Tagen ohne Regierung gestürzt. Für den französischsprachigen Landesteil wäre so ein Szenario schlichtweg undenkbar. Zu viele Aufgaben im Bereich Wirtschaft, Soziales und Umwelt warten darauf, gelöst zu werden. Benoît Lutgen hat sehr viel riskiert: für sich, für seine Partei, für unsere Regionen und Gemeinschaften, urteilt Le Soir.
Macht Benoît den Emmanuel?
La Libre Belgique wertet den Schritt der CDH als strategisch: Zwei wahltaktische Elemente haben Lutgen zu seiner Entscheidung gebracht. Zum einen ist seine Partei in großen Schwierigkeiten, die Umfragewerte sind schlecht. Erste Annäherungsversuche zwischen PS und MR zeichneten sich ab. Lutgen musste darauf reagieren. Zum anderen gibt es auch bereits Gespräche zwischen CDH, Ecolo und DéFI, um eine Art belgische Bewegung "En Marche!" zu gründen. Doch diese Diskussionen kommen nicht voran. Lutgen wollte jetzt ein "Momentum" schaffen, um die CDH ins Zentrum aller Überlegungen zu stellen, analysiert La Libre Belgique.
De Morgen fragt sich: Ist der CDH-Vorsitzende ein wallonischer Macron, der die Erneuerung der politischen Landschaft einläutet? Der Vergleich mit der französischen Politik ist immerhin erlaubt. Sie hat enormen Einfluss im Süden unseres Landes. Der Ruf nach einem wallonischen Macron hängt dort schon länger in der Luft. Die Parallelen zwischen dem Absturz der französischen PS von Hollande und den Skandalen der erlahmten belgischen PS von Di Rupo liegen auf der Hand. Offenbar glaubt Lutgen, dass das Schicksal ihn in dieser Situation dazu auserkoren hat, sein Volk in ein neues Land zu führen. Ob der Wähler das auch so sieht, bleibt abzuwarten, notiert De Morgen.
Totgesagte leben (oft) länger
La Dernière Heure richtet den Blick auf die föderalen Konsequenzen der gestrigen Entscheidung und führt aus: Wenn die MR die Hand ergreift, die sich ihr jetzt entgegenstreckt, bietet sich für die CDH eine große Chance, in zwei Jahren an der Föderalregierung beteiligt zu werden. Die PS würde sich dann auf allen Ebenen in der Opposition befinden. Abgesehen von einer kurzen Zeit 1985 gab es das noch nie, ruft La Dernière Heure in Erinnerung.
Het Laatste Nieuws meint: Lutgens Abkehr von der PS ist eine gute Nachricht für Charles Michel, Wouter Beke und selbst Gwendolyn Rutten und Bart De Wever. Alles, was die Regierung Michel in Zukunft anpacken wird, wird quasi auch den Segen von Lutgens CDH bekommen. Und die Regierungsparteien haben jetzt gute Aussichten darauf, auch nach 2019 ohne die Sozialisten regieren zu können, prophezeit Het Laatste Nieuws.
De Standaard hingegen sieht die PS noch nicht am Ende und bemerkt: Paradoxerweise könnte die PS sogar gestärkt aus dem gestrigen Tag hervorgehen. Die große Gefahr ist nämlich jetzt, dass die französischsprachigen Parteien sich untereinander nicht einig werden und keine tragfähigen Regierungen ohne die PS zustande bringen. Das würde der PS wieder die Tore zur Macht öffnen, denn im Leben wie in der Politik gilt: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker. Die Stunde der Wahrheit schlägt erst 2019, bei den kommenden Wahlen. Wer jetzt schon die PS zu Grabe tragen will, könnte vielleicht selbst am Ende in die Grube fallen, warnt De Standaard.
Kay Wagner, Foto: Ncolas Materlinck, belga