Die Wahrheit hat es schwer in diesen Zeiten. Gut, über den Begriff "Wahrheit" kann man ganze Bücher schreiben, also nehmen wir lieber den Umkehrschluss: Die Unwahrheit hat freie Fahrt. Das gilt zum Beispiel dann, wenn insbesondere N-VA oder Vlaams Belang versuchen, den Brüsseler Anschlag von Montagabend gleich politisch zu instrumentalisieren. Klar, wenn ein fanatisierter, selbst ernannter Gotteskrieger im Zentrum von Brüssel zwei schwedische Fußballfans tötet und einen weiteren schwer verletzt, dann muss es irgendwo ein Versagen gegeben haben, einen Webfehler im Sicherheitsapparat, der dazu geführt hat, dass der Mann durch die Maschen schlüpfen konnte. Und das muss man natürlich untersuchen.
Aber einfach pauschal zu behaupten, dass die Vivaldi-Regierung schuld an dem Drama ist, und zwar wegen ihrer angeblich zu laxen Abschiebepolitik, das ist - mit Verlaub - grober, demagogischer Unfug. Ja, es stimmt: Der Täter war illegal in Belgien, er hätte also gar nicht mehr hier sein dürfen. Genau hier haken dann aber die Populisten ein und sagen: "Wäre er nicht hier gewesen, dann wäre das nicht passiert. Und warum war er hier? Weil die Regierung nicht dafür gesorgt hat, dass er abgeschoben wird".
Bringt uns diese scheinbar logische Erklärung jetzt irgendwie weiter? Natürlich nicht! Schlimmer noch: Hier handelt es sich um ganz bewusst platzierte Spaltpilze. Erstmal wird hier suggeriert, dass Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung quasi per se eine Gefahr darstellen. Zugleich verlagert man damit den Fokus: Statt über Prävention zu diskutieren, etwa über Wege, wie man Radikalisierte noch effizienter aufspüren bzw. das Phänomen bekämpfen kann, macht man aus dem Ganzen eine Migrationsdebatte.
Und bei alledem tut man dann auch noch so, als wäre die Lösung so himmelschreiend einfach, dass es an Dummheit grenzt, wenn man sie nicht sieht. Die da wäre: "Alle rausschmeißen!", ums mal mit den knackigen Worten zu sagen, wie sie auch Populisten allzu gerne verwenden. Nun, wenn das so einfach wäre, warum hat Theo Francken, einer der Chef-Scharfmacher der N-VA, dieses vermeintliche Patentrezept in seiner Zeit als Asylstaatssekretär nicht einfach umgesetzt? Weil es doch nicht so einfach ist, wie es klingt.
Der Brüsseler Attentäter steht da fast schon beispielhaft für das wohl komplizierteste Problem: Er ist Tunesier. Allerdings nimmt Tunesien wie so viele andere seine Staatsbürger nicht zurück. Alle Anstrengungen, das Land umzustimmen, sind bislang gescheitert, selbst die EU hat das nicht geschafft. "Im Zweifel einsperren!", hört man dann. Gut, wenn man sich wirklich über alle internationalen Konventionen und auch die Menschenrechte hinwegsetzen will: Einsperren? "Wo denn?", müsste man da erwidern. In Belgien leben nämlich nach Schätzungen über 100.000 Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung.
Damit es hier keine Missverständnisse gibt: Eben diese Situation ist absolut inakzeptabel! Dass Ausweisungsverfügungen einfach ignoriert werden können, dass der Staat also seine Entscheidungen nicht durchsetzt, das ist zutiefst ungesund, gar schädlich für die Legitimität eben dieses Staates. Ja, das muss sich ändern! Was übrigens auch im Sinne vieler Betroffener wäre, denn deren Status ist extrem prekär. Sie haben buchstäblich keine Rechte, sie sind Ausbeutung und Missbrauch schutzlos ausgeliefert. Das kann niemand gutheißen!
Die Abschiebepolitik muss effizienter werden, auch um zu vermeiden, dass die Akzeptanz noch weiter abbröckelt. Aber einen Terroranschlag zum Anlass zu nehmen, um diese Debatte dann unnuanciert und vorbei an allen Fakten mit dem Holzhammer zu führen, das ist einfach nur ekelhaft. Hier wird auf dem Rücken der Terroropfer Stimmung gemacht, wird die Polarisierung nur noch weiter vorangetrieben.
Das gleiche gilt leider auch für den Krieg in Nahost. Hier sieht man im Internet ein wahres Festival der Fake News bzw. Vorverurteilungen. Jeder verkauft "seine Wahrheit" als die einzig wahre, die einzig mögliche. Und da gilt: Was nicht passt, wird passend gemacht. Fakten spielen da allenfalls eine untergeordnete Rolle. Nicht nur beim "Sender", auch beim "Empfänger" übrigens, denn viele glauben ohnehin nur noch, was in ihr Weltbild passt.
Und dafür muss man nicht im Nahen Osten wohnen. In Belgien machte ein Clip die Runde, der angeblich einen kleinen Jungen auf einer pro-palästinensischen Demo in Brüssel zeigte, der mit einer Waffe herumfuchtelte. Auch Politiker haben das Video geteilt. Nur ist es nachweislich ein Fake, aus dem Kontext gerissen. Es stammt von den Aufnahmen für ein Musikvideo.
Überall schießen sie aus dem Boden: Die Spaltpilze, die die jeweils andere Seite diabolisieren sollen. Schwarz-Weiß-Denken: Es gibt nur noch "die Guten" (also "uns") und "die Bösen" (die anderen). Lagerdenken: Auch nur kleinstes Verständnis für die Situation der jeweils "anderen" Seite wird gleich so gewertet, als würde man damit auch gleich all ihre Verbrechen bzw. Rechtsverstöße ebenfalls gutheißen.
Und so nähert man sich langsam aber sicher einer Situation, in der kein Dialog mehr möglich ist. Die Wahrheit ist weder schwarz noch weiß, sie ist grau - grau mit vielen Nuancen und Schattierungen.
Roger Pint
Eigentlich gibt es keine "Wahrheit" sondern nur verschiedene Ansichten von einem Sachverhalt.
Die Wahrheit ist auch, dass man Australien nicht mit Europa vergleichen kann, Herr Scholzen und dass es leider nicht so einfach ist, Leute abzuschieben. Da hat Roger Pint völlig Recht.
Nach dem Rücktritt des Justizministers und der Erkenntnis, dass der Justiz wohl ein kapitaler Fehler unterlaufen ist, einen Auslieferungsantrag Tunesiens nicht zu beantworten, ist dieser Kommentar in zentralen Teilen jedoch leider nur noch Makulatur.
Wenn es schon nicht die eine Wahrheit gibt, so gibt es zumindest Fakten, über die weder Herr Scholzen noch Herr Van Quickenborne hinwegsehen können.
Guten Morgen Herr Leonard.
Australien versucht zumindest die illegale Einwanderung zu unterbinden und ermöglicht gleichzeitig die Einwanderung von geeigneten Personen.Die Australier arbeiten mit System.Die haben den Schleppern das Geschäft vermasselt und so sind unzählige Menschen nicht ertrunken.
Und was passiert in Europa ? Man diskutiert, ist unentschlossen und ermöglicht so den Schleppern erst ihr Geschäft mit dem Ergebnis, dass tausende im Mittelmeer ertrunken sind.Einfach unmenschlich.Auch wird so radikalen Parteien Vorschub geleistet.Auch in Europa wäre eine Nulltoleranz-Politik möglich.Alles eine Frage des politischen Willens.In Europa praktiziert man falsch verstandene Mitmenschlichkeit, basierend auf Gefühlen und nicht auf dem gesunden Menschenverstand.(siehe 2015 Merkel).
Ich weiß auch, daß Abschiebungen schwierig sind, weil nicht jedes Land seine Staatsbürger zurücknimmt. Nichtabschiebbare sollten dann in ein geschlossenes Zentrum gesteckt werden und dann mal abwarten.In Großbritannien hatte man die Idee, nach Ruanda abzuschieben.Warum nicht mal so eine Idee diskutieren ?
Auf jeden Fall darf es nicht so weiter gehen wie bisher.