"Belgien, ein Schurkenstaat", schrieb schon am Mittwoch die Brüsseler Zeitung Le Soir. Schurkenstaat? Belgien? In einem Atemzug zu nennen mit dem Iran oder Nordkorea? Das ist die Gefahr, wenn man solch drastische Bilder bemüht: Sie nutzen sich ab. Einigen wir uns darauf: Le Soir wollte wohl eindringlich die Alarmglocke ziehen - und das wiederum völlig zu Recht.
Viel stärker ist das Zeichen, das knapp 30 Verfassungsrechtler gesetzt haben mit ihrem Offenen Brief an die Föderalregierung. Unterzeichnet haben das Schreiben renommierte Uni-Professoren aus dem Norden und aus dem Süden des Landes, eine der seltenen Initiativen in diesem Land, die man wirklich noch "national" nennen kann. Ein Beweis mehr dafür, dass die Fachleute aufrichtig besorgt sind. Sie drehen auch nicht lange um den heißen Brei herum: Die Föderalregierung missachte eins der elementarsten demokratischen Prinzipien, beklagen die Verfassungsrechtler.
Genau gesagt richtet sich der Protest gegen die CD&V-Asylstaatssekretärin Nicole de Moor. Die hatte entschieden, dass alleinstehenden männlichen Asylbewerbern keine Unterkunft mehr zugewiesen werden soll. Sie begründet das mit der Feststellung, dass nicht ausreichend Plätze zur Verfügung stehen, und dass sie Frauen und Kindern Vorrang einräumen wolle.
Der Staatsrat reagierte sofort, begutachtete die Entscheidung und urteilte, dass das mit geltendem Recht nicht vereinbar sei. Sprich: Die Maßnahme ist illegal. Doch wie reagierte Nicole de Moor? Sie erklärte frank und frei, dass sie, Staatsrat hin oder her, ihre Politik unverändert fortsetzen werde. Im Grunde ist sie da - leider - nur konsequent: Der belgische Staat wurde wegen seines Umgangs mit Flüchtlingen schon über 7.000 Mal von Gerichten verurteilt - geändert hat sich nichts.
Pragmatiker würden jetzt argumentieren: "Mein Gott, Frau De Moor hat doch keine Wahl! Es gibt schlicht und einfach nicht genügend Plätze. Ganz davon abgesehen, dass die EU endlich mal eine gemeinsame Asylpolitik auf die Beine stellen sollte, damit künftig verhindert wird, dass einige wenige Mitgliedsstaaten die Flüchtlingskrise alleine buckeln müssen".
Ja! Alles richtig! Nur rechtfertigt das immer noch nicht das Vorgehen der Staatssekretärin. Denn, und das ist eben der springende Punkt, hier geht es ums Prinzip, und das im wahrsten Sinne des Wortes.
In einem demokratischen Rechtsstaat wird der Handlungsspielraum einer Regierung begrenzt durch das Gesetz. Das bildet einen verbindlichen Rahmen, man könnte auch sagen: Das sind die Leitplanken. Dies nicht aus Spaß an der Juristerei, sondern um Willkür zu verhindern und damit Rechtssicherheit zu garantieren. Ums in einem Satz zu sagen: Gleiches Recht für alle. Und die Justiz übernimmt da die Rolle des Schiedsrichters: Im Zweifel entscheidet ein Gericht, ob sich die Regierung noch innerhalb dieses Rechtsrahmens bewegt, ob sie sich an die Regeln hält oder nicht. Urteilt die Justiz, dass die Regierung ihren Handlungsspielraum überschritten hat, dann muss die Regierung sich dem Schiedsspruch unterwerfen und ihre Politik entsprechend korrigieren. Oder sie muss das Gesetz ändern.
Dieses Prinzip ist sakrosankt, denn es ist die Quintessenz des demokratischen Rechtsstaates. Grob gesagt: Beugt sich die Regierung nicht mehr dem Urteil eines Gerichts, im vorliegenden Fall des Staatsrates, dann kann sie auf Dauer de facto machen, was sie will.
Das ist ja auch genau der Grund, warum illiberale Regierungen wie in Ungarn oder Polen und jetzt - besonders sichtbar - auch in Israel zuallererst versuchen, der Justiz die Flügel zu stutzen: Sie wollen einen Freibrief für die Alleinherrschaft, was man auch Diktatur nennt. Argumentiert wird da oft ausgerechnet mit der "Demokratie". Da hört man Beweisführungen wie: Die Regierung sei der Ausdruck des Volkswillens; und da werde man sich doch nicht von weltfremden Richtern reinreden lassen, schließlich sei das Volk der einzige Souverän. Das Wort "weltfremd" kann man - je nach Gusto - ersetzen durch "links", "woke" oder "aktivistisch". Einer der Vorgänger von Nicole de Moor, der N-VA-Politiker Theo Francken, hat dieses Liedchen quasi täglich geträllert.
Nur, apropos Theo Francken: Wenn der jetzt in der Rolle der Asylstaatssekretärin wäre und sich so unverfroren und flagrant über ein Urteil des Staatsrates hinwegsetzen würde, dann wäre "die Bude zu klein", wie der Flame sagt, dann würde eine Welle der Empörung über das Land schwappen. Gut, es ist nicht so, als hätte Francken es nicht versucht, sich über ein Gerichtsurteil hinwegzusetzen. Die Regierung hat sich am Ende aber doch gebeugt.
Das aber nur um zu sagen: Protest darf nicht selektiv sein, je nach dem, wer da gerade die Rote Linie überschreitet. Denn es ist immer eine Rote Linie. Und wer auch immer sie missachtet: Ein solcher Akt hat immer Signalwirkung, kann Schule machen. Erstmal liefert man den Feinden des demokratischen Rechtsstaats noch Argumente für seinen Abbruch, weil man demonstriert, dass er letztlich doch nicht vor Willkür und Rechtsunsicherheit schützt. Und zweitens: Wie soll man Antidemokraten verbieten, was man selber praktiziert (hat)?
Deswegen: keine Diskussion! Asylstaatssekretärin Nicole de Moor muss ihre Entscheidung zurücknehmen. Denn bleibt es dabei, dann ist das ein Fuß in der Tür; und hinter dieser Tür befindet sich ein Weg, der in letzter Konsequenz tatsächlich in einen Schurkenstaat führt.
Roger Pint
Guter Kommentar.
Man kann sich damit trösten, dass es nicht viel schlimmer werden kann als in Russland, Iran oder Nordkorea.
Das Verhalten der Staatssekretärin halte ich für eine Verfallserscheinung des belgischen Staates genau wie die kaputten Straße.
Klar, Herr Scholzen. Iran, Russland, Nordkorea...
Und natürlich ein Staat im Verfall.
Nichts Neues also aus Eimerscheid.
Zur Asylkrise wäre viel zu sagen und ich hätte mir gewünscht, Lösungsansätze in dem Kommentar zu finden.
Nicht vergessen sollte man, dass Frau De Moor ein illustres "Vorbild" hatte, war es doch das belgische Staatsoberhaupt, König Baudouin, der anlässlich des Gesetzgebungsverfahrens zur Liberalisierung der Abtreibung 1990 sich geweigert hat, dieses Gesetz zu sanktionieren.
Bei Baudouin fand man einen Ausweg, der darin bestand, ihn für eine kurze Zeit für "regierungsunfähig" zu erklären. Bei einem König lassen sich solche Tricks finden... denn eigentlich hätte er zurücktreten müssen.
Frau De Moor hätte, wenn sie der Entscheidung des Staatsrates aus welchen Gründen auch immer nicht folgen konnte/wollte, ebenfalls diesen Weg wählen müssen.
Guten Abend Herr Leonard.
Aus Respekt vor dem Gesetz hat man seinerzeit getrickst, um König Baudouin die Möglichkeit zu geben, nicht zu unterschreiben.Man wollte zumindest den Anschein von Rechtsstaatlichkeit wahren.
Wenn eine Staatssekretärin einfach so ohne weiteres ein Gerichtsurteil ignorieren kann, dann ist das ein Zeichen des Verfalls.Normalerweise müsste sie sich selbst vor Gericht verantworten wegen Missachtung und Behinderung der Justiz.
Sie gibt auch ein schlechtes Beispiel.Warum sollte sich Otto-Normal-Verbraucher an Gesetze und Urteile halten, wenn eine Staatssekretärin es nicht tut ?
Eine Lösung könnte so aussehen, dass man die Standards für Unterkunft senkt. Es ist durchaus zumutbar, daß jemand in einem Zelt schlafen kann, anstatt in einem Hotelzimmer.