Es gab Zeiten, da behandelte der Deutschunterricht ein Werk wie "Das Erdbeben in Chili". Geschrieben hat es Heinrich von Kleist vermutlich 1806. Die Geschichte dreht um ein historisch belegtes Beben, das 160 Jahre vorher "in St. Jago" stattgefunden hatte. Eigentlicher Auslöser war aber ein anderes Erdbeben: dasjenige von 1755 in Lissabon. Es habe, so die Textinterpretation, das optimistische Weltbild jener Zeit im wahrsten Sinne des Worts erschüttert. Es ging um die Frage, wie sich angesichts dieses Leids ein gütiger Gott rechtfertigen ließe.
Für Kleist ist der Glaube an einen göttlichen Willen nichts anderes als der Versuch, hinter der Katastrophe einen Sinn zu sehen. Stattdessen regiert der Zufall. Seine Novelle behandelt aber noch ein anderes Thema: die Natur des Menschen. In seiner Erzählung löst die gemeinsam erlebte Katastrophe zunächst Mitgefühl und Hilfsbereitschaft aus. Sie schlagen aber um in Hass und Aggression.
Das ist ähnlich verstörend wie die Bilder, die wir seit einigen Tagen aus dem Erdbebengebiet zu sehen bekommen. Ein wenig aufgehellt durch die "kleinen Wunder", bei denen selbst nach Tagen noch Überlebende aus den Trümmern gerettet werden konnten. Und die so empfundene Hilflosigkeit angesichts dieser Bilder führt zu müßigen Diskussionen darüber, wie die Hilfe denn nun organisiert werden sollte - Stichwort: B-Fast. Das sollten wir aber besser den Profis überlassen.
Auf keinen Fall müßig sind Diskussionen um die Verantwortung vor und nach der Katastrophe. Über die Frage nach einem "höheren Willen" dürften wir hinweggekommen sein. Auch die "höhere Gewalt", die Naturkatastrophen innewohnt, ist nicht das Thema. Aber wieso sind die Menschen in dieser "ostanatolischen Verwerfung", von der wir jetzt in Nachrichten und "Brennpunkten" lernen, nicht besser vor solchen Katastrophen geschützt worden?
Warum wurden Bauvorschriften nicht eingehalten? Sie waren nach dem schweren Beben von 1999 verschärft worden, das wegen Unzulänglichkeiten der damaligen Regierung indirekt und mit etwas Verzögerung Erdoğan und seiner AKP zur Macht verholfen hatte.
Seitdem ist es ihm gelungen, in der Türkei ein Präsidialsystem einzuführen. Und bald stehen Wahlen an.
Die könnten diesmal knapp ausgehen. Da heißt es für den Amtsinhaber, Kritik an der eigenen Amtsführung unterdrücken, andere als Sündenböcke hinstellen und nach Möglichkeit an allen Fronten punkten: Im Angesicht der Katastrophe hat das türkische Militär offenbar betroffene Kurdengebiete in Nordsyrien attackiert!
Ganz abgesehen davon, dass die dringend benötigte Hilfe in diesen Gebieten, wo es nur geht, behindert wird. Und von der anderen Seite, vom "Schlächter" Assad, ist trotz seines Anstandsbesuchs in der Region sowieso keine Rettung zu erwarten. Auch er ließ weiter bombardieren.
Im Interesse der Hilfsbedürftigen werden wir wohl eine Faust in der Tasche machen müssen. Und wie eine Helferin dort hoffen, dass zumindest die Wahlen in der Türkei etwas ändern könnten.
“Über die Frage nach einem "höheren Willen" dürften wir hinweggekommen sein.”
Ich denke nicht.
“Gehen wir demütig in die Knie, nur Gott kann uns retten.”… konnte man dieser Tage an anderer Stelle lesen.
"hilf dir selbst, und Gott hilft dir."
Ergo: Bist du selbst schon aktiv, dann bekommst du auch den Segen des Himmels.
Es ist vielsagend, dass manche Zeitgenossen, die reihum wissenschaftliche Erkenntnisse negieren, an übernatürlichen Beistand glauben. Den Menschen in der Türkei und Syrien wurde dieser Beistand genauso verwehrt, wie den 6 Millionen ermordeter Juden.
Offensichtlich waren sie selbst wohl nicht … aktiv genug.