Mittwochabend, am Elisenbrunnen in Aachen. Grob geschätzt rund hundert Menschen haben Grund zum Feiern: Am Vorabend ist der in ihren Augen "Pannenmeiler" Tihange 2, wie es heißt, "endgültig abgeschaltet" worden. Das Aachener Aktionsbündnis gegen Atomenergie sieht darin einen persönlichen Erfolg - gut, fairerweise des "vielfältigen Protests hier im Dreiländereck".
Dienstagmorgen, in Tihange. Grob geschätzt rund hundert Menschen protestieren gegen die Abschaltung von Tihange 2. Unter ihnen sind so prominente N-VA-Vertreter wie Bart De Wever oder Theo Francken, aber auch die frühere Energieministerin Marie-Christine Marghem von der MR. Ihr Parteivorsitzender George-Louis Bouchez, der politisch auch als "Schneller Brüter" durchgehen könnte, twitterte, dass die frankophonen Liberalen dafür kämpfen werden, die unumkehrbare Dekontaminierung der abgeschalteten Atomreaktoren zu verhindern. Es gehe darum, den "gesamten Reaktorpark betriebsbereit" zu halten, um notfalls Tihange 2 und auch das schon stillgelegte Doel 3 wieder anfahren zu können.
Auch wenn das wegen der 2012 festgestellten konstruktionsbedingten Risse im Reaktordruckbehälter nicht geboten scheint, klingt es weniger abwegig, wenn wir die Halbwertzeit politischer Entscheidungen zur Atomenergie in Belgien bedenken. Der langwierige Rückbau bis zur endgültigen Stilllegung samt Abriss dürfte locker etwa 15 Jahre in Anspruch nehmen, versicherte diese Woche Tihange-Betriebsdirektor Rikkert Wyckmans im BRF-Fernsehen.
Bis dahin sollte auch geklärt sein, wo denn die radioaktiven Abfälle hin sollen. 1994 zogen Tausende Demonstranten, auch aus der Grenzregion, zum Ommerscheider Wald bei Wereth, um eine Endlagerung dort zu verhindern. Neben all den anderen, die zum stillen Protest in ihren Fenstern ein Plakat mit dem Strahlenwarnzeichen angebracht hatten - ganz so wie jetzt in und um Aachen. Statt "A.M.E.L. Nein" … "Tihange Abschalten!"
Aber die Zeiten haben sich spätestens mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine geändert: Selbst für die Grünen in Belgien und Deutschland, zumindest diejenigen, die Verantwortung tragen, steht die Versorgungssicherheit an erster Stelle. Der Klimaschutz verschärft noch das Dilemma. In Deutschland soll es beim Reservebetrieb von zwei AKW bis Mitte April bleiben. In Belgien ist die Verlängerung der beiden jüngsten Reaktoren Tihange 3 und Doel 4 bis 2035 beschlossene Sache - also zehn Jahre über den geplanten Atomausstieg 2025 hinaus. Und jetzt also auch noch die Streckung der drei ältesten noch laufenden Meiler - ausklamüsert habe das Kernkabinett das schon im Dezember.
Und doch macht wieder das Schreckgespenst vom winterlichen "Blackout" die Runde. Das musste auch die etwas weiter oben demonstrierende Marie-Christine Marghem in ihrer aktiven Zeit als Energieministerin wiederholt an die Wand malen. Ganz einfach, weil die reparatur- und wartungsbedürftigen Atomkraftwerke nicht zur Verfügung standen.
Die Atomnation Frankreich kann ein Lied davon singen: Nach fehlendem Kühlwasser im trockenen Sommer bleibt sie wegen abgeschalteter Atomkraftwerke auch im Winter auf die Hilfe ihrer Nachbarn angewiesen: Wie L’Echo und De Tijd in dieser Woche meldeten, war Belgien 2022 der größte Netto-Stromexporteur outre-Quiévrain. Verkehrte Welt!
Das französische und das deutsche Beispiel sollen aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die belgische Energiepolitik ein Fiasko ist. Vor ziemlich genau 20 Jahren, im Januar 2003, ist der Atomausstieg in Belgien gesetzlich verankert worden - von einer Regenbogenmehrheit aus Sozialisten, Liberalen und Grünen. 2003 - da war das jetzt vom Netz genommene Tihange 2 gerade bei der Hälfte seiner Laufzeit angelangt.
So viel Zeit vergeudet. Darüber jammern hilft uns aber auch nicht weiter. Gas geben - also im übertragenen Sinne - wäre angesagt. Mit einer Langfriststrategie. Aber wie soll die gelingen, wenn sich heute noch nicht mal die Regierungsparteien einig sind?
Stephan Pesch