Man stelle sich vor: Ein Wildfremder steht plötzlich in der Wohnung, weil der die Lebensgefährtin als Geisel nehmen möchte, um ihr anschließend mal eben die Kniescheiben zu zertrümmern. Aber weil sie gerade nicht da ist, bekommt man selber den Hammer über die Rübe gezogen. Wäre dies ein ausgearteter Nachbarschaftsstreit gewesen, hätte das kaum für weltweites Aufsehen gesorgt. Wenn aber der Ehemann einer der ranghöchsten politischen Repräsentanten der USA stellvertretend den vorsätzlichen Wutausdruck eines Unzufriedenen hinnehmen muss, dann gibt das zu denken.
Okay, man ist hierzulande noch weit von den unversöhnlichen Zuständen entfernt, die US-Republikaner und US-Demokraten in eine Situation gebracht haben, nicht mehr für etwas zu stehen, sondern vor allem dem politischen Gegner aufs Äußerste schaden zu wollen. Aber der Trend, Gewalt mit Kritik zu verwechseln oder unter dem Vorwand der Meinungsfreiheit seine schlechten Manieren zu manifestieren, ist in vielen demokratischen Ländern unverkennbar.
Beispiel Niederlande: In den letzten zwei Jahren ist die Zahl der politischen Amtsträger in den Provinzen und Gemeinden, die Aggressionen oder Gewalt ausgesetzt waren, erneut gestiegen. Nicht nur jeder zweite gewählte Vertreter, sondern auch Verwaltungsbeamte erlebten einen oder mehrere Vorfälle von Aggression. Sowohl die Zahl der schweren als auch die der weniger schweren Vorfälle hat in den letzten beiden Jahren zugenommen. Verbale Aggression über soziale Medien ist die häufigste.
Die traditionelle 'Vierte Gewalt', also die publikativen Medien, die durch Berichterstattung und öffentliche Diskussion das politische und gesellschaftliche Geschehen zum Positiven beeinflussen sollen, gehen mehr und mehr unter im Geschrei der Gruppen und Einzelnen, die, statt den Mächtigen auf die Finger zu schauen, lieber gleich mit echter Gewalt diesen auf die Finger - ja auf den Kopf - hauen möchten. Und nicht mal vor Familienmitgliedern zurückschrecken.
Dem Computertastatur-Gesindel kann man noch mit etwas Nervenstärke trotzen, aber bei der zunehmenden Gewaltbereitschaft ist es keine Überraschung, wenn potentielle Newcomer bei der Risikoabschätzung eher darauf verzichten werden, sich auf eine der vielen Listen aufstellen zu lassen, die im belgischen Superwahljahr 2024 zu füllen sind.
Es wäre nachvollziehbar. Und einfacher wird es nicht. Leere Kassen allerseits. Finanzkrise, Inflation, Energiekrise, Krieg in Europa. Da bleiben immer weniger Handlungsspielräume.
Erklärt das den Hang zu immer extremeren Parteien, die auch eine Systemkrise nicht scheuen? Ist das der Grund für so viel Wut? Weil die fetten Jahre in Europa wohl vorbei sind. Günstiges Gas aus Russland, billige Ware aus China, militärischer Schutz der USA. Das sind keine Naturgesetze.
Selbst Premierminister Alexander De Croo, Mitglied einer Partei, für die Optimismus eine moralische Pflicht ist, kündigte fünf bis zehn schwierige Jahre an. Ist die Lage dann vielleicht noch ernster? Egal wie sie ist: Die Welt ist mit ihren globalen Verflechtungen komplizierter geworden. Wer weiß zum Beispiel, wie man Cyberterrorismus verhindern kann, ohne dass gleich jeder auf Computer und Smartphone verzichten muss?
Das Phänomen der Überforderung findet man in diesen turbulenten Zeiten auf Wähler- wie auf Politikerseite. Und das bringt uns wieder zu Samuel Nemes. Vermutlich liegt mehr Wahrheit darin, sein Amt wegen Überforderung einem fitteren Parteikollegen zu überlassen, als in der Ansicht, dass Politiker den Bezug zur Realität verloren hätten. Samuel Nemes macht es sich einfach. Aber wer will ihm das übel nehmen?
Manuel Zimmermann
Dieser Kommentar ist eine gute Beschreibung der Ist-Situation.Ursachen werden nicht erklärt, nur Symptome beschrieben.
Die tieferen Ursachen finden sich in der Politik selbst.Der Neoliberalismus hat doch für immer größere Unterschiede gesorgt.Die Armen wurden ärmer, die Reichen reicher.Das führt zu Unzufriedenheit, Ärger, Frustration, Vertrauensverlust etc.Und irgendwie müssen die Leute ja ihren Dampf ablassen.Das passiert dann ua im Internet, aber auch durch zunehmende Gewalt oder durch die Wahl von extremen Parteien.Die einzige Lösung ist bessere und glaubwürdigere Politik.Auch mehr direkte Demokratie wie in der Schweiz. Die Bevölkerung will gefragt und beteiligt werden an der Macht.Wenn dann die Menschen zufriedener sind, gibt es weniger Gewalt, das Benehmen wird besser.
Treffende Analyse von Manuel Zimmermann. Vor allem ein Abschnitt gibt zu denken: „Dem Computertastatur-Gesindel kann man noch mit etwas Nervenstärke trotzen, aber bei der zunehmenden Gewaltbereitschaft ist es keine Überraschung, wenn potentielle Newcomer bei der Risikoabschätzung eher darauf verzichten werden, sich auf eine der vielen Listen aufstellen zu lassen, die im belgischen Superwahljahr 2024 zu füllen sind.“
Wer verhindern will, dass „direkte Demokratie“ wie in der Schweiz reines Computertastatur-Wunschdenken bleibt, dem/der bleibt nur ein Weg: aufstehen, sich zusammentun, sich vor Ort engagieren, genossenschaftlich Projekte anpacken … und das auch dann weiter durchhalten, wenn er/sie von dem notorischen Tastaturgesindel immer wieder besserwisserisch und pauschal als „die Politik“ tituliert wird, die immer nur alles verkehrt macht. Ein Versuch wär‘s wert Herr Marcel Scholzen Eimerscheid.
Herr Velz.
Sie wollen doch nur von der eigenen Verantwortung ablenken, indem Sie mir den Ball zuwerfen.
Natürlich könnte ich mich in einer Partei engagieren. Nur ich bin mir ziemlich sicher, da kämen wieder irgendwelche studierte Schlauberger und würden mir Steine in den Weg legen. Ich habe praktisch kein Vertrauen mehr in Parteien. Gebranntes Kind scheut das Feuer.
Tastatur-Gesindel...ein passender Ausdruck.
So mancher (politisch korrekter) Journalist sollte sich auch mal hinter die Ohren schreiben.
Im Jahr 2018 erschien das Buch "Lückenpresse" des Politikwissenschaftler Ulrich Teusch; der BRF berichtete ("Guter Journalismus ist in Gefahr").
Das Buch kann inzwischen als kostenlose PDF-Datei heruntergeladen werden.
Wenn wir nachträglich die in diesem Buch geschilderten haarstreubenden Zustände in der heutigen Berichterstattungen betrachten, und vergleichend in Sachen Zuwanderung, Energiewende, Kulturgeschehen und vor allem Corona, etc... anschauen, dann bleibt nur die Schlussfolgerung, dass der Journalismus immer politik-höriger und einfältiger wird.(=schlechter)
Journalisten und Reporter sind zu Regierungssprechern verkommen.
Anstatt einer breiten und kritischen Debattenkultur einen Freiraum zu geben, sind es die öffentlich-rechtlichen Medien, die diesen immer mehr einengen.
Über die Eigenbezeichnung "Qualitätsjournalismus" lachen immer mehr Menschen, denn das sind regierungstreue Copy-Paste-Akteure für dpa-Artikel,u.s.w.
Das "Tastatur-Gesindel" im Internet hat wenigstens noch eine eigene Meinung.
Auch ich empfehle einem hier schreibenden BRF-Redakteur Manuel Zimmermann, dass er sich mal dieses Buch 'Lückenpresse' durchliest.
Kehrt mal vor der eigenen Tür!
Man sollte nicht vergessen, es gilt nach wie vor das Primat der Politik, dh die Politik ist gleichzeitig Problem und Lösung.Unsere Damen und Herren Postenjäger sollen sich nicht zu viel beklagen.Die jetzigen Gesellschaftszustände sind das Ergebnis politischer Entscheidungen. Menschen sind nicht grundlos wütend und unzufrieden.Vielleicht mal ein bisschen Ursachenforschung betreiben.Hohe Energiepreise, Flüchtlingsströme, etc sind das Ergebnis politischer Entscheidungen und nicht eine Strafe Gottes wie die zehn Plagen.
Zu dem von G.Scholzen empfohlenen Buch :
Bei aller berechtigten Kritik ist der Buchautor doch differenzierter, als Herr Scholzen es darstellt. Dazu drei Zitate aus einer Rezension des DLF:
"Ich missbillige ausdrücklich den Begriff ‚Lügenpresse‘“, stellt er klar. Aber Teusch beklagt eine „Lückenpresse“,.."
"Man muss einem Medium misstrauen. Man muss sich aus ganz vielen Quellen informieren. Man muss aber all diesen Quellen – auch Alternativmedien und Social Media – mit Misstrauen begegnen.“ So Teusch.
"Teusch unterscheidet im Buch und im Gespräch zwischen einem engen Mainstream und anderen großen Medien, die nach wie vor für Qualitätsjournalismus stünden. Es sei kein Zufall, dass dieser „integre, ehrliche, gute Journalismus“ seine Bastionen im Öffentlich-Rechtlichen habe."
Scholzen daggen: "sind es die öffentlich-rechtlichen Medien,..."
Deshalb: Auch und vor allem den Gegenpolern, die jahraus, jahrein denselben Leierkasten drehen, ist mit äußerstem Misstrauen zu begegnen.
Von "Objektivität" und kritischer Distanz zu sich selbst ist bei denen leider keine Spur zu finden.