Zwischen der Zubilligung eines Status als Beitrittskandidat und einem tatsächlichen Beitritt liegen Jahre oder sogar Jahrzehnte. Wenn er denn überhaupt jemals stattfindet. Davon können unter anderem die diversen Länder auf dem Balkan ein Liedchen singen. Von daher erübrigen sich alle Diskussionen über die möglichen praktischen Probleme einer Aufnahme ohnehin erstmal auf sehr lange Zeit.
Genauso ignorieren kann man Vorwürfe, dass die Entscheidung von Donnerstag eine Provokation gegenüber Russland sei. Denn der Kremlherrscher hat längst bewiesen, dass er keine Provokationen braucht, um Tod und Verderben über seine Nachbarn zu bringen. Das weiß man allerspätestens seit 2014. Damals bekam die Ukraine nach langen Verhandlungen nur ein Assoziierungsabkommen, von einem selbst hypothetischen EU-Beitritt war keine Rede. Man wollte den "lupenreinen Demokraten" und "zuverlässigen Partner" ja nicht reizen. Geholfen hat es wenig: Putin fiel lange vor der Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit seinen Truppen in die Ukraine ein.
Mit seinem Vernichtungskrieg gegen den Staat, die Bevölkerung und die kulturelle Identität der Ukraine ist Rücksichtnahme auf eventuell zuvor vorhandene geopolitische Gleichgewichte ganz zur Makulatur geworden. Nicht zuletzt, weil im Moskauer Wörterbuch der Begriff "Recht auf Selbstbestimmung" nur dann zu existieren scheint, wenn man ihn nutzen kann, um irgendwo kremltreue "Volksrepubliken" zu erfinden. Und weil es in Putins Welt offenbar nur zwei Kategorien Länder gibt: Die, die man besser nicht angreift, weil sie zurückschlagen könnten, und zukünftige Kolonien. Das weiß aus langer und schmerzhafter Geschichte die Ukraine, das wissen die anderen Anrainerstaaten Russlands und das wissen selbst die Verantwortlichen in der EU, auch wenn viele das noch immer nicht offen zugeben wollen.
Die EU weiß aber auch, dass sie für den Augenblick eigentlich alle Möglichkeiten ausgeschöpft hat, die Ukraine materiell zu unterstützen. Zumindest bis bei Putin die letzten Sicherungen durchbrennen und er tatsächlich ein EU- oder Nato-Land angreift.
Bleibt also nur noch moralische Unterstützung. Und genau das ist der Beitrittskandidaten-Status für die Ukraine. Ein dringend benötigtes Signal der Solidarität für die Soldaten in den Schützengräben, die Zivilisten in den Kellern und Schutzräumen, die Millionen über den ganzen Kontinent verstreuten Flüchtlinge.
Den psychologischen Wert dieses Signals sollte man weder unterschätzen noch sich darüber lächerlich machen. Es ist nämlich vor allem der Kampfmoral der Ukrainer zu verdanken, dass die russischen Panzer noch nicht an der polnischen Grenze stehen. Sicher, Moral allein reicht auch nicht gegen einen Gegner, der rücksichtslos täglich unzählige seiner Soldaten für Trümmerland und Großmachtträume verheizt. Aber selbst die besten westlichen Waffensysteme bringen letztlich nichts, wenn sie nicht von Menschen bedient werden, die wissen, wofür sie kämpfen, und die wissen, dass sie nicht vergessen und im Stich gelassen worden sind.
Moral ist das, was letzten Endes, vielleicht erst in Jahren, das entscheidende Element dieses Krieges sein könnte. Das haben zahllose militärisch zwar unterlegene, aber dafür motiviertere Armeen im Lauf der Geschichte oft genug bewiesen.
In diesem Kontext wäre es nichts anderes als eine Bankrotterklärung Europas gewesen, der Ukraine gerade in dieser dunklen Stunde keinen Beitrittskandidaten-Status zu geben.
Boris Schmidt
Guter Kommentar
Zitat aus diesem Text:
"... Es ist nämlich vor allem der Kampfmoral der Ukrainer zu verdanken, dass die russischen Panzer noch nicht an der polnischen Grenze stehen..."
Das ist reine Spekulation. Worauf stützen Sie Ihre Annahme ? Hatten Sie Zugang zu russischen oder westlichen Dokumenten ? Warum nur bis zur polnischen Grenze und nicht auch bis zur ungarischen, slowakischen, rumänischen und moldauischen Grenze ?