"Ich kann nicht mehr", sagt eine Altenpflegerin und denkt daran, ihren Job nach der Corona-Krise an den Nagel zu hängen - erschöpft von der großen Arbeitsbelastung.
"Die Vorstellung, meinen Vater vielleicht nicht mehr wiederzusehen, bevor er stirbt, zerreißt mir das Herz", sagt eine Angehörige - verzweifelt über das Besuchsverbot im Seniorenheim.
"Lieber sterbe ich am Coronavirus anstatt an Einsamkeit", sagt ein Heimbewohner - isoliert von der Außenwelt und seiner Familie.
Heimbewohner, Angehörige, Pflegekräfte: Sie alle müssen viel aushalten in dieser Zeit - bis an die Grenze des Erträglichen. Die Isolationsmaßnahmen sollen das Leben der alten Menschen schützen, machen es aber gleichzeitig schwer erträglich. Vor dem Virus geschützt, aber von der Außenwelt abgeschnitten, der Absonderung von Familie und Freunden ausgesetzt. Bei allem Engagement der Pflegekräfte, die versuchen, die Angehörigen zu ersetzen und über Telefon und Internet Kontakte zu ermöglichen - die Zuwendung und Liebe nahestehender Menschen und ihre physische Präsenz können sie nicht ersetzen.
Es gibt sicher Menschen, die damit zurecht kommen. Aber es gibt auch diejenigen, die daran zugrunde gehen - Depressionen, Nahrungsverweigerung, Suizide werden aus Heimen gemeldet. Gerade diejenigen, die dem Lebensende nahe sind, brauchen die Nähe ihrer Liebsten. Video-Anrufe können keine Berührung ersetzen, keine zärtliche Geste.
Wer hätte vor einigen Monaten gedacht, dass es zu solch drastischen Maßnahmen kommen würde - und, dass die Gesellschaft sie so akzeptieren würde. Geradezu unterwürfig und fast klaglos. Kein großer Aufschrei, keine Proteste gegen Isolationsmaßnahmen und Besuchsverbote. Denn die Angst sitzt im Nacken, die Angst vor Krankheit und Tod.
Doch "eine Gesellschaft, die nur angstvoll an ihre Sicherheit denkt, läuft Gefahr, unmenschlich zu werden, ohne es zu bemerken", sagt der Benediktiner Notger Wolf. "Und dabei bleiben ethische Werte auf der Strecke", warnt er. Dazu gehört auch der Wunsch nach einem menschenwürdigen Sterben. Der ist in diesen Tagen nicht nur Heimbewohnern verwehrt.
Auch in Krankenhäusern müssen Sterbende alleine ihre Todesängste ausstehen und ohne Begleitung aus dem Leben scheiden, weil weder ein Angehöriger noch ein Priester sie besuchen darf. Nach ihrem Ableben werden den Angehörigen nur noch die Habseligkeiten in einem Müllsack überreicht. Wo bleibt da die Menschenwürde? Und wo bleibt das Maß, wenn sich zur Trauerfeier nicht einmal mehr ein paar Dutzend Menschen in einer Kirche versammeln dürfen, die Platz für Hunderte bieten würde?
Kann all das, was Menschenwürde ausmacht, können Menschenrechte der Sorge um Gesundheit untergeordnet werden, einer Gesundheit, die nicht nur in Corona-Zeiten gefährdet ist? Das Leben ist zerbrechlich. Jeden Tag. Die Gesundheit ist ein hohes Gut, aber nicht nur die körperliche, auch die seelische. Und jeder weiß, dass man sie nicht voneinander trennen kann und sich um beide sorgen muss.
Das gilt nicht nur für die alten Menschen in den Heimen und die Patienten in den Krankenhäusern. Auch für die, die sich um sie kümmern und jetzt mehr denn je an der Grenze ihrer körperlichen und psychischen Belastbarkeit stehen. Beifall und Dankesworte der Politiker klingen zynisch, solange die Pflegekräfte nicht endlich gerecht für ihre Arbeit bezahlt werden und ausreichend personelle Unterstützung und Schutzmaterial bekommen. Dann könnten auch Besuche in den Heimen organisiert und so geregelt werden, dass die Zeit der Isolation erträglich wird.
Es braucht das rechte Maß in allem, und dafür müssen wir sorgen - wir, die mündigen und verantwortlichen Bürger, die wir draußen sind und die Stimme erheben können und sollen, damit die Menschlichkeit nicht auf der Strecke bleibt in diesen schlimmen Zeiten.
Michaela Brück
Endlich ! Endlich ein mutiger Kommentar, der nicht von nüchternen Zahlen spricht, der sich nicht hinter mehr oder weniger wissenschaftlichen Erkenntnissen versteckt. Noch nie war es so wichtig wie in diesen Tagen, Mensch zu bleiben, mitmenschlich zu denken und zu handeln, seiner Intuition zu vertrauen und gesunden Menschenverstand walten zu lassen.
Selber denken - solange es noch erlaubt ist.
Ja ja, man hat Geld für 9 (!) Gesundheitsminister, aber nicht genug Geld für den Gesundheitssektor.
Nach der Coronakrise sollen sich die politisch Verantwortlichen in ganz Belgien mal die Frage stellen, ob sie für den Menschen da sind oder die Menschen für sie.
Ich hoffe die Coronakrise hat eine heilsame Wirkung die politische Kultur in Belgien und man einigt sich auf eine abschließende Staatsreform mit klarer Kompetenzverteilung zwischen Regionen und Föderalebene, so dass man keine 9 Gesundheitsminister mehr braucht sondern weniger, 4 Regionale und 1 Föderalen. Bin gespannt.
Genau diese Besonnenheit, diese Humanität und diesen Sinn für Verantwortung erwarte ich von der Politik, der Wissenschaft, den Medien, den Ordnungsbehörden und auch von uns selbst. Mehr Menschlichkeit, Ethik, etwas weniger Angst. Dem würde ich noch den Anspruch hinzufügen, soziale Gerechtigkeit und Grundrechte nicht aus den Augen zu verlieren. Danke für diesen wertvollen Kommentar, Frau Brück.
Sehr geehrte Frau Brück! Ihrem Kommentar ist nur wenig hinzuzufügen... Die große Herausforderung ist eben: wie kann die Menschlichkeit in diesen schweren Zeiten nicht / oder nur so wenig wie möglich auf der Strecke bleiben? Auch in Belgien führen die strikten Isolationsmaßnahmen manchmal zu echten Familiendramen. Das Schlimme dabei ist, dass Leute in Krankenhäusern und Pflegeheimen ohne jeden Besuch, ohne jeden physischen Kontakt mit Familie oder Freunden, ohne jeden Abschied, in völliger Einsamkeit sterben (müssen). Ich glaube, dass die psychischen Folgen für die Angehörigen nachher schwer zu überwinden sein werden.
Vielen Dank Frau Brück!!! Sie haben in Worte gefasst was ich seit Wochen denke! Ich trauere um die vielen alten Menschen, die ohne ihre Liebsten sterben, um Kinder, die ihre Freunde und andere wichtigen Bezugspersonen nicht sehen dürfen, um alle Menschen, deren Leben schon vor Corona sehr schwierig und Krisenhaft war und jetzt noch schwieriger die Hilfe finden die sie dringend brauchen! Die psychisch kranken Menschen, von Armut betroffene Familien, Problem-Familien, um nur einige zu nennen. Ich trauere auch um unsere gelöschten Grundrechte und um das verlorene Europa mit der damit verbundenen Freiheit. Ich hätte niemals für möglich gehalten dass mir irgendwer irgendwann ein Mal verbietet die Grenze zu einem Nachbarland zu überschreiten.
Angst ist ein ganz schlechter Wegbegleiter! Es ist ein Armutszeugnis wenn eine Regierung sich dessen bedient statt die Probleme endlich bei den Wurzeln anzupacken und die Mündigkeit der Bürger und Bürgerinnen zu respektieren.