"Catenaccio", sagt man im Fußball. Gemeint ist eine sehr defensive Spielweise: Die Mannschaft stellt sich quasi "hinten rein", macht die Räume zu, und verhindert so, dass der Gegner flüssig nach vorne spielen kann. Zugleich lauert man auf Konter: Der kleinste Fehler des Gegners wird gnadenlos ausgenutzt.
Das wäre wohl eine treffende Zusammenfassung des zurückliegenden Wahlkampfes. Wirklich offensiv nach vorn hat niemand gespielt. Vielmehr haben alle nur auf einen Patzer eines Gegners gehofft, um den dann in vollen Zügen auszuschlachten... Catenaccio eben: Es geht nicht darum, schön zu spielen, es geht wohl auch eigentlich nicht wirklich ums Gewinnen. In erster Linie geht es darum, nicht zu verlieren.
Was schon im Fußball wenig attraktiv ist, das ist in der Politik einfach nur bedauerlich. Denn worum geht es? Kurz gesagt: um die politischen Weichenstellungen für die nächsten fünf Jahre. Und das beschränkt sich doch wohl hoffentlich nicht auf die Frage, ob nun Jan Jambon Premierminister wird oder Charles Michel oder doch Gwendolyn Rutten. Ums mal mit der Zeitung Het Nieuwsblad zu sagen: "Wir haben einen Wahlkampf erlebt, der zu einem Land passt, in dem es keine großen Probleme oder Herausforderungen gibt. Dann sprechen wir aber nicht über Belgien".
Kaufkraft, Klimawandel, Haushaltssanierung, Pensionen, Justiz: Allein über diese, spontan aneinandergereihten Themen kann man ganze Bücher schreiben. Zugegeben: Das machen die Parteien auch. Im Wortsinn. Manche Parteiprogramme sind fast so dick wie die Bibel. Das Programm der PS etwa zählt stolze 783 Seiten. Da kann wahrscheinlich fast jeder irgendetwas finden, was ihm gefällt - und das ist wohl auch mitunter Sinn der Sache...
Damit das klar ist: Niemand wirft den Parteien vor, keine Ideen oder Konzepte zu haben. Das Problem war nur - zumal in den letzten Wochen -, dass man die Inhalte nicht wirklich an die Frau und an den Mann gebracht hat. Wirklich breite Diskussionen über die Frage, wie wir uns das Belgien von morgen vorstellen, haben wir jedenfalls - leider - nicht gesehen.
"Zeichen der Zeit", wird jetzt vielleicht der eine oder andere sagen. Und, wenn man ehrlich ist: Es gibt tatsächlich auch kein wirkliches Forum mehr für lange, staatsphilosophisch anmutende Abhandlungen oder Debatten über die Gesellschaft von morgen. Spätestens seit Twitter müssen sich anscheinend auch politische Botschaften möglichst auf 280 Zeichen beschränken. Und auch viele Journalisten konfrontieren die Kandidaten gerne mit Fragen, die - bitte schön - nur mit Ja oder Nein beantwortet werden dürfen. "Ansonsten schaltet der Hörer oder Zuschauer ab", heißt es dann oft zur Begründung. Und auch da ist wohl was dran. Viele Internet-Medien ermitteln etwa die sogenannte "Verweildauer" - das ist die Zeit, die ein User auf das Lesen eines Artikels verwendet. Und oft sprechen wir hier von Sekunden. Dass jemand mehrere Minuten lang einen Text liest, ist eher selten.
Also: Die Welt wird immer komplexer. Zugleich sinkt aber bei vielen die Bereitschaft, sich länger mit einem Thema auseinanderzusetzen. Und das allein mag zumindest eine Erklärung dafür sein, dass wir eben in den letzten Wochen nicht die für eine Demokratie so wichtige Konfrontation der Ideen und Vorschläge erlebt haben.
Eine Erklärung, aber nicht die einzige. Und dann sind wir wieder beim Catenaccio. Viele Parteien haben agiert nach dem Motto: "Bloß kein Tor kassieren, bloß nicht in Rückstand geraten". Es ist die Angst vor dem, was man im Internet-Jargon wenig schicklich einen "Shitstorm" nennt.
Die Grünen haben in dieser Woche so eine virale Empörungsspirale in Gang gesetzt. An der Parteispitze vorbei hatten Ecolo-Leute einen Flyer veröffentlicht, der sich ziemlich direkt und gezielt an muslimische Bürger richtete. Für Ecolo war das insofern peinlich, als man ansonsten allzu gerne gegen solche Praktiken wettert. Der Punkt ist nur: Die darauffolgende theatralische Empörung war unverhältnismäßig. Catenaccio: Der Gegner hat die Konter-Chance wahrgenommen.
Einen solchen Shitstorm kann aber auch der politische Gegner auslösen. Zwei Beispiele haben wir diese Woche gesehen. Den Grünen hatte man angedichtet, sie wollten jetzt auch Weinkeller besteuern. Und diese Meldung wurde quasi von Minute zu Minute größer. Das Ziel ist dann schnell erreicht: Es geht da nämlich nicht um Fakten, sondern um ein Image, dass man einer Partei verpassen will.
Die N-VA hat das diese Woche auch erlebt. Die Sozialisten hatten im Wahlprogramm der N-VA einen Punkt entdeckt, den selbst Parteichef Bart De Wever offensichtlich vergessen hatte. Der besagt, dass die N-VA gegebenenfalls - je nach Entwicklung der Lebenserwartung - das Rentenalter weiter anheben würde. Auch da ließ die Empörung nicht lange auf sich warten. Was bleibt da hängen? Nur die Überschrift, nicht der Kontext.
Da darf es fast nicht verwundern, dass die Parteien eher den Anschein erweckt haben, den Wahlkampf quasi "aussitzen" zu wollen. Und manchmal sah es gar so aus, als könnten die Parteien zu den eigenen Ideen nicht stehen. "Bloß nicht aus der Deckung kommen"...
Was bleibt, das ist zunächst ein Wermutstropfen: Aus der nicht unbegründeten Angst der Parteien heraus, auf irgendwelche Details festgenagelt zu werden, findet die für die Demokratie lebenswichtige inhaltliche Konfrontation der Ideen nicht statt.
Was bleibt, das ist aber auch Erleichterung. Denn es hätte durchaus auch schlimmer kommen können. Einen Wahlkampf wie in den USA oder auch Großbritannien, wo fast nur noch grober Unfug in die Welt gesetzt wird und wo es nur noch darum geht, den Gegner zu treffen, so etwas haben wir zum Glück auch nicht erlebt.
Im Vergleich zum Hauen und Stechen ist Catenaccio wohl immer noch das kleinere Übel...
Roger Pint
Wie wahr!
Nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung sind jedoch auch die Medien selbst, die - zumal in "Ostbelgien" - oftmals viel zu zurückhaltend und rücksichtsvoll ihre Aufgabe wahrnehmen.
Bestes Beispiel eine BRF- Wahldebatte, bei der der Moderator sich veranlasst sah, z.T. hoffnungslos überforderten Spitzenkandidaten inhaltliche und rhetorische Brücken zu bauen, statt sie zu verständlichen Aussagen zu drängen.
Wenn die etablierten Parteien darauf bedacht sind, nur nicht anzuecken, um keine Wähler zu vergraulen, sind es gerade die an den politischen Rändern agierenden Politiker und Parteien, die sich nicht scheuen, sich klar zu positionieren.
Man muss diese Positionen nicht teilen, aber zumindest bieten sie Anlass zu kontroverser Debatte.
Über das Erstarken der "Populisten" darf sich keiner wundern, denn ihr Erfolg ist allein das Resultat des sich windenden und duckenden politischen Establishment.
So wie dieser Kommentar trifft leider auch die Kritik an ein abgenutztes politisches Geschäft meist ins Schwarze.
Eine für die Demokratie wahrliche bedenkliche Entwicklung.
Vielleicht ist Schweigen besser als leere Versprechungen, Maerchen und Luegen.