Eins muss man ihm lassen: Charles Michel hat buchstäblich alle Register gezogen. Seine Rede vor der Kammer war überraschend, erstaunlich, in jedem Fall absolut bemerkenswert. Michel hat in einen Werkzeugkasten gegriffen, den man bislang noch nicht kannte. Die Minderheitsregierung à la Charles Michel klang schlüssig, spannend, geradezu modern, in dem Sinne, dass sich der eine oder andere außenstehende Beobachter vielleicht sogar gesagt hat: "Kommt, probiert's doch einfach mal!". Michel wollte im Wesentlichen das Parlament, die einzelnen Abgeordneten wieder zu wirklichen Akteuren machen: eine gemeinsame Suche nach Mehrheiten, und das auf der Grundlage allein von Inhalten. Gelebte Demokratie, quasi...
Michel wusste freilich, dass er dafür Schmieröl liefern musste. Er war denn auch bereit, einen Preis zu zahlen, sogar einen hohen Preis gemessen an der bisherigen Politik seiner beiden Regierungen. Er hat die linke Opposition regelrecht umgarnt, fast bis zur Selbstaufgabe, so sehr jedenfalls, dass sogar die Vettern und Kusinen der flämischen OpenVLD offensichtlich kalte, um nicht zu sagen, blaue Füße bekommen haben.
Das Ende ist bekannt: Sozialisten und Grüne haben dem Premier diese wundersame Linkskurve offensichtlich nicht abgekauft und einen Misstrauensantrag gestellt.
Macht das die linken Oppositionsparteien jetzt zu Tätern? Vordergründig kann man das so sehen. Nach dem Motto also: Hätten die Grünen und Sozialisten - im Sinne des Allgemeinwohls - ihre Rachegelüste nicht mal einfach zurückstellen und doch die ausgestreckte Hand des Premiers annehmen können? Hätten sie vielleicht. Aber war das wirklich eine Option?
Erstens muss man mal ganz klar sagen: Wenn es die Verfassung auch nicht ausdrücklich vorschreibt, aber eine Regierung, die nicht über das Vertrauen des Parlaments verfügt, ist aus Sicht der Demokratie schwierig. Hier gilt: "Erlaube nicht Deinem Freund, was Du Deinem Feind nie zugestehen würdest!" Hier hätte man einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen.
Zweitens: So modern Michels Idee auch klingen mochte, man konnte sie auch als subtilen Sirenengesang sehen. Zumal in einem Land, in dem - man mag es bedauern - immer noch die Parteien regieren. Der Wissenschaftler spricht von Partikratie. Ist es da wirklich so verwunderlich, dass die Opposition nicht auf Michels Angebot eingegangen ist? Jene Opposition, die die beiden Michel-Regierungen bislang geflissentlich ignoriert hatten. Jene Opposition, die sich seit vier Jahren fast schon in der Résistance wähnte, die Michel und seine Politik vehement bekämpft hat. Wie glaubwürdig wäre es gewesen, wenn man sich auf der Grundlage einer Rede einfach hätte umdrehen lassen?
"Es reicht nicht, nach vier Jahren einfach mal 'sorry' zu sagen", hat man zuweilen gehört. Zumal die frankophone Opposition sich ja im Nachhinein in ihrer Haltung bestätigt sieht: Alle hatten sie Charles Michel vor einer Koalition mit der N-VA gewarnt. Dass sich bei einer solchen Gemengelage keiner dem Premier an den Hals wirft, naja, wirklich überraschend ist das jetzt auch nicht.
Und mal ehrlich: Die Situation war doch alles andere als stabil. Über der Minderheitsregierung von Charles Michel hätte doch immer ein Damoklesschwert gebaumelt. Jederzeit hätte irgendeine Oppositionsfraktion einen Misstrauensantrag stellen können. Eine geschäftsführende Regierung hat einen Vorteil: Sie kann nicht mehr stürzen. Und nicht vergessen: Das Parlament bleibt handlungsfähig. Es ist immer noch möglich, dass hier am Ende die parteipolitischen Korsette aufgebrochen werden. Es gibt denn auch Leute, die sagen, dass Michel jetzt eigentlich die komfortablere Version seiner Idee bekommt.
Damit das klar ist: Hier geht es nicht um die Frage, wer denn nun am Ende die Verantwortung für die Misere trägt. Das ist längst zu einer Frage des Blickwinkels geworden. Sind es die Sozialisten und Grünen, die den Misstrauensantrag eingereicht haben? Wenn man will... Ist es Charles Michel, der zu hoch gepokert hat, oder der womöglich geschickt versucht hat, die heiße Kartoffel ins Parlament zu spielen? Kann man so sehen. Ist es OpenVLD-Chefin Gwendolyn Rutten, deren Twitterbotschaft wie eine Handgranate in der Kammer eingeschlagen war? Oder ist es doch letztlich immer noch die N-VA, die diese Krise mit ihrer Last-minute-Pirouette eigentlich erst ausgelöst hatte?
Dieses Schwarzer-Peter-Spiel ist müßig. In den Augen der Bürger war das Übel wohl ohnehin längst angerichtet. Alle, die im Parlament das Allgemeinwohl beschworen haben, die verkennen wohl, dass eben dieser Bürger sich schon lange kopfschüttelnd abgewendet hatte. Das ganze Theater - denn es war in vielen Fällen Theater - war zum Abgewöhnen. Die Politik hat hier den klassischen Tunnelblick entwickelt: Wenn man sich zu sehr mit sich selbst beschäftigt, dann ist man nämlich plötzlich in dieser eigenen Welt gefangen. Und dann passiert es, dass zwar jeder einzelne Schritt - von Nahem betrachtet - perfekt logisch und nachvollziehbar erscheint, das Gesamtbild, das da entsteht, ist aber dennoch zerfahren, gar desaströs.
Chaos, das ist das Gegenteil dessen, was die Menschen erwarten. Oder, ums mal mit Pierre-Frédéric Nyst zu sagen, dem Chef der wallonischen Mittelstandsvereinigung UCM: "Wissen Sie", sagte Nyst in der RTBF, "unsere Mitglieder sind keine Staatsrechtler, sie sind keine Politikwissenschaftler. Das einzige, was unsere Leute interessiert, das ist Stabilität, klare Verhältnisse". Diese Aussage dürfte wohl auf die übergroße Mehrheit der Bürger zutreffen. Und wer das Chaos letztlich angerichtet hat, auf diese Frage haben viele längst nur noch eine Standardantwort: "Es ist DIE Politik".
Und da darf man gar nicht darüber nachdenken, dass das womöglich erst der Anfang war. Man muss kein Unglücksprophet sein, um eine extrem schwierige Regierungsbildung zu prognostizieren. Egal, ob die Wahlen nun im Februar oder doch im Mai stattfinden. Vor allem die N-VA geht sichtbar auf Krawallkurs, spielt wieder mit gemeinschaftspolitischen Streichhölzern. Und sie hat schon gezeigt, dass sie notfalls auch vor groben, populistischen Lügen nicht zurückschreckt.
Insgesamt wird die Polarisierung immer stärker. Schwer vorstellbar, welche Koalitionen man da am Ende überhaupt noch möglich sein werden. Eine Neuauflage der 541-Tage-Krise ist das letzte, was dieses Land gebrauchen kann. Nicht nur, weil das letztlich den Separatisten in die Hände spielt - die N-VA verhält sich ja längst wie der Fuchs im Hühnerstall - , sondern vor allem, weil der Graben zwischen der Politik und den Bürgern am Ende so breit geworden ist, dass niemand mehr den Spagat hinbekommt. Zumindest kein Demokrat...
Roger Pint