Im Moment höchster Anspannung die Schrecksekunde: Mark Cavendish wird abgedrängt, kracht in die Balustraden, rutscht mit dem Rad auf die Straße, wird überrollt von zwei folgenden Fahrern, die sich ihrerseits überschlagen. Da bleibt einem erst mal die Spucke weg. Seither habe ich die Bilder unzählige Male wiedergesehen. Aus der Frontalansicht, der Helikopterperspektive, als eingefrorenes Bild und auf den Titelseiten sämtlicher Zeitungen.
Der ausgefahrene Ellbogen von Weltmeister Peter Sagan ist überall zu sehen - die Sache damit geklärt, grob unsportlich, "ein schwerer Fall von Gefährdung eines anderen Fahrers", wie die Rennkommissare urteilten, um ihn von der Tour de France auszuschließen. Dass Cavendish mit hohem Risiko ins eigene Verderben fuhr und kein Kind von Traurigkeit ist, wenn es um eine vorteilhafte Position geht, tut hier nichts zur Sache. Schon eher, dass für ihn - mit gebrochenem Schulterblatt - die Tour zu Ende war. Der Ausschluss von Sagan nur eine Art von Kompensation? Ausgleichende Gerechtigkeit? Der Held vom Vortag nun der Übeltäter?
Gerade unter rennerfahrenen Radsportlern sehen viele die Strafe als zu hart an. Das komme ständig vor. Und Sagan könne keine böse Absicht nachgewiesen werden. Der ausgefahrene Ellenbogen ein Reflex? Nach Berührung durch Cavendish oder fürs Gleichgewicht in einem chaotischen Sprint, an dem auch der Etappensieger Arnaud Démare nicht schuldlos war?
Der wutentbrannte Tom Steels mit seinem Trinkflaschenwurf (1997) oder der mehrfache Kopfstoß von Mark Renshaw (2010) boten nicht solchen Spielraum für Interpretation.
Fakt ist, dass die Jury ein Exempel statuiert hat - ein prominentes dazu, im Regenbogentrikot. Und das ist über diese erste Tourwoche hinaus, dasjenige was hängen bleiben sollte. Ex-Sprinter Tom Boonen, der vorausschickt, dass er sich mit Sagan sehr gut verstehe, bezieht überraschend eindeutig Position für den Ausschluss des Slowaken. Nur ein starkes Signal, sagt Boonen, könne dafür sorgen, dass der Wahnsinn auf den letzten zweihundert Metern ausgebremst werde. Dass es so nicht unbedingt verstanden wird, sah man daran, wie sich Bouhanni und Guarnieri bei der Sprintankunft in Troyes beharkten.
Noch als er selbst Rad fuhr, statt wie an diesem Wochenende einen Rennkäfer, legte Tom Boonen aber schon Wert darauf, jungen Fahrern zu vermitteln, dass sie mit einem solchen Verhalten die Gesundheit ihrer Konkurrenten... und die eigene gefährden.
Womit wir beim Thema Doping wären. "Wie könnt ihr euch das anschauen - und darüber berichten", werde ich gefragt. Die Tour de France "eine rollende Apotheke", in der jeder betrügt, so gut er kann. Da hat sich, schwören die Beteiligten, schon einiges zum Besseren getan. Naiv wäre zu glauben, dass nicht mehr gedopt wird, dafür versteckter und mit noch höheren Risiken.
Die Medien aus dem radsportverrückten Belgien ergründeten beim Tourstart in Düsseldorf halb neugierig, halb distanziert die Skepsis der Deutschen an der Sauberkeit dieses Spektakels. Wie die Franzosen nehmen die Belgier die Tour als das, was sie für viele darstellt: Als Sportereignis von Weltrang, beinahe als tägliche Pflicht, die selbst die Urlaubsplanung durcheinander bringen kann, als dreiwöchiges Drama mit aussichtslosen Ausreißern, mit schillernden Favoriten und mit gefallenen Helden... wie Peter Sagan.
Brot und Spiele, auch wenn es Wichtigeres gibt in dieser Welt. Soviel Ablenkung muss sein.
Stephan Pesch